Hübsche Antiquität, dachte Gertraut Rolshausen, als sie 1987 einen kleinen Schädel kaufte. Bis einem Forscher auffiel, dass er von Leonardo sein könnte. Denn er entdeckte darin geheime Kryptogramme.
"Wenn Sie es sehen wollen, dann sehen Sie’s." Gertraut Rolshausen blickt auf den Schädel in ihrer Hand. Die Augenhöhlen starren zurück, an die Wohnzimmerdecke. "Da" – sie deutet auf Knochenwülste – "hier ist eine Rose, und hier eine Schlange. Man erkennt sogar die Augen!"
Ihr Finger gleitet über das Relief, zeichnet Reptilienkörper und Blütenblätter nach, die sie selbst erst sieht, seit ein mysteriöser Forscher aus der Schweiz bei ihr im saarländischen Altbreitenfelderhof anrief und sie darauf aufmerksam machte.
Die Schlange und die Rose, sagte der Anrufer, seien Signaturen Leonardo da Vincis, "und auf dem Schädel sollen sich nicht nur zwei solcher Zeichen befinden, sondern 22!", ruft Ehemann Winfried Rolshausen dazwischen. 22 Beweise, und das, wo die Rolshausens seit Jahrzehnten nach nur einem einzigen gesucht haben.
Zitat:
Liebe auf den ersten Blick
Wenn sich die Kostbarkeit von Dingen nach ihrer Geschichte bemäße, dann wäre dieser Schädel nicht mit Gold aufzuwiegen. Der Totenkopf hatte schon viele Leben, er war Kreuzschmuck, Antiquität, Weihnachtsgeschenk, Wohnzimmernippes und Forschungsobjekt.
Letzteres mit Resultaten, die nicht nur als perfekte Romanvorlage für eine Fortsetzung des "Da-Vinci-Codes" dienen, sondern auch die Fantasie unzähliger Verschwörungstheoretiker mit ihrem Glauben an geheime Bünde und Botschaften befeuern könnten. Nun ist er Museumsstück und seit Samstag in Schloss Gottorf in Schleswig zu sehen.
"Miniaturschädel aus Alabaster, private Leihgabe, Datierung: vermutlich Renaissance, Herkunft: vermutlich Gegend bei Florenz" steht auf dem Schild daneben. Es ist die vorerst letzte einer ganzen Reihe an Betrachtungen, die in den letzten 25 Jahren über den Schädel angestellt wurden: die meisten davon nüchtern und streng wissenschaftlich. Angefangen aber hat alles mit Liebe auf den ersten Blick.
Symbol der Vergänglichkeit
Im Dezember 1987 läuft Gertraut Rolshausen durch die Saarbrücker Innenstadt, sie ist auf der Suche nach einem Weihnachtsgeschenk für ihren Mann, als sie die Auslage eines Antiquitätengeschäfts mustert.
"Da sah ich ihn, er stand da so im Profil, auf Augenhöhe, und ich dachte auf Anhieb: Mein Gott, ein Schädel, der so schön ist, dass er auffällt!" Das Totenköpfchen in ihrer Hand ist kaum voluminöser als ein sehr großes Hühnerei, dabei aber erstaunlich schwer. Kühl und glatt wie ein Handschmeichler schmiegt er sich zwischen die Finger.
Inzwischen dürften die Rolshausens jede Wölbung, jede Kerbe kennen. Die kantigen Backenzähne, die papierdünne Nasenscheidewand, die Kleberreste am Hinterhauptsloch, dort, wo der Schädel an einem Kreuz befestigt war und so die Jahrhunderte überdauerte. Bis ihn ein Saarbrücker Antiquar auf einem Flohmarkt in Kaiserslautern fand, aus dem morschen Holz löste und ins Schaufenster stellte – weiter zurück lässt sich die Spur nicht verfolgen.
Gertraut Rolshausen ist das an jenem Dezembertag gleichgültig. "Ich bin einfach aus Interesse ins Geschäft, und die Inhaberin sagte mir, er sei ein Memento Mori, ein Symbol der Vergänglichkeit." Kaputt sei er außerdem, erfährt sie; das rechte Jochbein fehle, wahrscheinlich aufgrund eines Sturzes; statt 6000 Mark koste er deshalb nur 600. Gertraut Rolshausen nimmt den Schädel mit nach Hause.
Dort steht er jahrelang im Wohnzimmerregal. Manchmal nimmt ihn Winfried Rolshausen, der Arzt, in die Hand, betrachtet ihn und stellt ihn wieder zurück. Bis zu dem Tag, an dem er sich das Gebiss genauer ansieht – und stutzt. Am rechten Oberkiefer, also auf der Seite des scheinbar fehlenden Jochbeins, sind noch alle Zähne vorhanden – links dagegen fehlen Zähne, und zwar samt Zahnwurzel. "So, als ob er auf der rechten Seite nie gekaut hätte, sondern immer auf der linken Seite – " Gertraut Rolshausen macht eine Kunstpause " – weil rechts die Muskulatur gefehlt hat!"
Inbegriff fehlerhafter Perfektion
Winfried Rolshausen kann an diesem Tag noch nicht das Treacher-Collins-Syndrom benennen, jene erbliche Erkrankung, bei der die Patienten unter solchen Gesichtsfehlbildungen leiden und zu der auch die Anomalien im Bereich des Gehörgangs und des Hinterkopfes passen. Er weiß auch noch nicht, dass Leonardo da Vinci in seiner Studie grotesker Köpfe ebensolche Entstellungen skizziert hat. Aber für ihn steht fest: "Das hier ist kein runtergefallenes Schädelmodell." Doch was dann?
Aus anatomischer Sicht: ein Inbegriff fehlerhafter Perfektion. Zwei Experten aus Homburg, von den Rolshausens zurate gezogen, stellen zum einen zwar eine verblüffende Genauigkeit und feinste Details fest, präzise bis in den Tränen- Nasenkanal. Andererseits hat sich der Künstler scheinbar grobe Schnitzer geleistet: Die Schädelnähte verlaufen zu weit hinten, die Augenhöhlen führen im Schädelinnern zusammen – alles falsch, urteilt ein Professor.
Vielleicht wäre die Geschichte hier zu Ende, wenn der Totenkopf nicht ausgerechnet bei den Rolshausens gelandet wäre. Bei Gertraut Rolshausen, 64, der gesprächigen Diplomübersetzerin, die sich dank ihrer Sprachkenntnisse quer durch Europa telefoniert, Experten zwischen Berlin und Oxford aufsucht, immer mit dem Schädel im Gepäck, und Expertisen einholt.
Und bei Winfried Rolshausen, dem überlegten Allgemeinmediziner, der die Recherche im heimischen Weiler weitertreibt – "mein Mann fliegt nicht" – und sich in die Bibliothek vertieft, die er und seine Frau sich im Laufe der Jahre angeeignet haben. Die Bücher und Ringordner mit Skizzen, Studien, Aufzeichnungen und wissenschaftlichen Gutachten füllen inzwischen den halben Wohnzimmerschrank. Man kann sich die Rolshausens auch bei anderen gemeinsamen Hobbys vorstellen – Pilze sammeln etwa, das tun sie auch – aber die Entschlüsslung ihres ganz persönlichen Da-Vinci-Codes passt irgendwie.
Anthropologe bringt den wichtigen Hinweis
Ihrem anderen Hobby, Telefonbücher klauen, verdankt Gertraut Rolshausen den ersten Durchbruch. "Ich stehle jedes Mal die Pages Jaunes, wenn ich nach Paris komme", sagt sie und zwinkert verschwörerisch, während ihr Mann einen zerfledderten Band aus dem Schrank zieht, "so bin ich immer auf dem neuesten Stand."
Mitte der 90er-Jahre durchsucht sie das Branchenverzeichnis nach Kunstantiquaren, bleibt an dem Laden "Galenos & Hippokrates" hängen, der nach den antiken Urvätern der Ärztekunst benannt ist. Der überraschte Inhaber erzählt ihr von einem Kunden, der gerade zur Tür raus sei, Mediziner und Anthropologe, Ehrenprofessor des Staatlichen Naturkundemuseums und Freizeit- Schädelforscher: Roger Saban. "So ein gebildeter, weiser Mann, kein Fachidiot", schwärmt Gertraut Rolshausen. Interdisziplinär habe der Professor über den Schädel geforscht und seine Ergebnisse schließlich vor der medizinhistorischen Gesellschaft der Sorbonne präsentiert.
Sein Fazit elektrisiert die Rolshausens: "Wissen Sie, an wen mich das erinnert?", fragt er das deutsche Ehepaar. "An die Arbeiten Leonardo da Vincis."
Roger Saban ist der Erste, der diesen großen Namen mit der kleinen Antiquität in Zusammenhang bringt. Den Rolshausens stößt er damit eine Tür auf, die geradewegs in die Werkstatt des italienischen Universalgenies zu führen scheint. Je mehr Verbindungen sie suchen, desto öfter werden sie fündig.
Die Augenhöhlen stoßen in der Mitte des Schädels zusammen – dort, wo da Vinci den Senso commune vermutete, den Sitz der Seele. Dann die Skizzen, die der Künstler von menschlichen Schädeln anfertigte und die derzeit in London ausgestellt werden – legt man sie über eine perspektivische Projektion des Modells, sind sie annähernd deckungsgleich.
Ein Dutzend Übereinstimmungen entdeckt
Die Maße des Schädels betragen exakt 4,7462 Zentimeter, sowohl in der Höhe als auch in der Breite – das entspricht einem Florentiner Braccio, dem zu da Vincis Zeiten gebräuchlichen Längenmaß. Das Material, aus dem der Schädel geformt wurde, ist kein Marmor, wie die Experten zunächst annahmen, sondern eine künstlich hergestellte Masse aus Alabaster, Quarz und Bindemittel – von da Vinci ist überliefert, dass er seinen Werkstoff selbst zusammenmischte.
Ein Dutzend solcher Übereinstimmungen können die Rolshausens aufzählen und belegen, mit Röntgendiagrammen und 3-D-Rekonstruktionen. Selbst einen altitalienischen Text von 1583, in dem der Autor die Besichtigung eines von da Vinci gefertigten Schädels schildert, stöbern sie auf.
Die Fachwelt reagiert gespalten auf das saarländische Ehepaar: Einige Professoren sind so begeistert, dass sie ihren Urlaub unterbrechen, andere reagieren ungehalten. "Einer war ganz frech, der sagte mir ins Gesicht: 'Ich glaube, Sie sind verrückt.' Ein Medizinhistoriker! Unglaublich!", ruft Gertraut Rolshausen. "Aber ich bin schon hart im Nehmen. Ich entgegne dann 'Und Sie sind zu dumm, um das zu wissen', oder so was Ähnliches."
Hart im Nehmen ist das Ehepaar tatsächlich. Streckenweise, sagen sie, sei es sehr mühsam gewesen, gerade dann, wenn die Spurensuche monate- oder jahrelang stockte. Doch ihre Hartnäckigkeit zahlt sich aus. Erst verfasst eine Bekannte ihres Sohnes eine Masterarbeit über den Totenkopf, dann wird ein Museumskurator auf das Stück aufmerksam und stellt den Schädel mit Dutzenden anderen in Mannheim aus.
Geheime Signaturen gefunden
Die Rolshausens überlegen noch, wie es danach weitergehen soll, als Ende April plötzlich das Telefon klingelt. Am Apparat: Dr. Sc. Tech. Dipl. Ing. ETHZ, SIA, VDI, MBA Insead Giorgio F. Alberti, Strategy & Management Consulter aus Locarno. So steht es auf der Visitenkarte, die er den Rolshausens bei einem Treffen Anfang Mai in Zürich überreicht.
Er ist der mysteriöse Anrufer, der das Ehepaar auf die Rose und die Schlange am Hinterkopf hinweist und ihnen von den anderen Signaturen erzählt: Das eingravierte Wort "Anatomia", Jahreszahlen, gar ein Selbstporträt da Vincis will er im Schädelinnern entdeckt haben. Der Schweizer hat sich intensiv mit Leonardo da Vinci befasst, auch mit der Geschichte des Monte Verit�*, jenem legendären Zentrum im Tessin, wo C. G. Jung, Hermann Hesse und andere große Denker in einem elitären Zirkel verkehrten.
"Freimaurer", sagt Gertraut Rolshausen mit großen Augen.
Mit Freimaurern habe er nichts zu tun, sagt Giorgio Alberti bei einem Anruf in Locarno. Er befasse sich für die Expo 2015 mit drei Festbanketten, die da Vinci seinerzeit organisiert habe, und im Zuge dieses Projekts sei er auf den rolshausenschen Schädel gestoßen.
Die internationale Forschung scheint ihm recht zu geben: Schon vor Jahren entdeckten italienische Wissenschaftler Chiffren in den Pupillen der Mona Lisa – eine für da Vinci typische Spielerei, sagt Alberti. Den Schädel der Rolshausens nennt er eine Sensation: "Das einzige 3- D-Modell da Vincis, das wir kennen! Ich bin hundertprozentig sicher, dass der Schädel von ihm stammt."
Verborgenes Kryptogramm
"Manchmal war ich schon ein bisschen doll im Kopf", sagt Getraut Rolshausen. "Man fragt sich: Kann das alles so sein?" Ihr Mann sagt: "Bei der Symbolik denke ich manchmal schon: Interpretiere ich da nicht etwa über? Aber jetzt ist für mich klipp und klar, dass der Schädel von Leonardo ist."
Schon jetzt vermissen die beiden ihr Kleinod, "Schleswig ist ja so weit weg von zu Hause", sagt Gertraut Rolshausen, "das macht mich schon ein bisschen traurig." Einen Verkauf schließen sie aber nicht aus, denn bevor er ein Dasein im Safe fristet, sei er besser in einem Museum aufgehoben, "am liebsten auf dem Monte Verit�*. Dann könnten wir im Urlaub hinfahren und ihn ein bisschen streicheln", sagt Gertraut Rolshausen.
Pathologisch, anatomisch, wissenschaftlich oder kulturhistorisch betrachtet, kann der Schädel alles sein: eine morbide Plastik oder ein millionschwerer da Vinci. Aber wenn man den beiden Saarländern nur lange genug zugehört hat, wie sie über das Totenköpfchen sprechen, über Renaissance- Längenmaße und Alabastermischungen und Nasennebenhöhlen, dann beginnt man, den Schädel auf die vielleicht schönste Art zu betrachten: mit ihren Augen.
Man blickt durch die Augenhöhlen in den Sitz der Seele, sucht nach verborgenen Kryptogrammen, schaut auf die Knochenwülste, die Rose, die Schlange. Und plötzlich schaut die Schlange zurück.