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[Internet] Governance: Wer entscheidet bei Wikipedia?

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Ungelesen 20.03.24, 09:45   #1
ziesell
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Standard Governance: Wer entscheidet bei Wikipedia?

Zitat:
Governance: Wer entscheidet bei Wikipedia?

Wer hat das Sagen bei freien Projekten? Vereinte Nationen von Wikipedia: Hinter der größten Wissenssammlung der Menschheitsgeschichte steht ein nicht kommerzielles Projekt mit hochkomplexen Strukturen.



Erinnert sich jemand noch an den Brockhaus? 2.490 Euro kostete die letzte gedruckte Ausgabe, die in den Jahren 2005 und 2006 erschien. Die Wissenssammlung für Wohlhabende bestand aus 30 Bänden, wog insgesamt 70 Kilo und war nie wirklich aktuell. Eine kleine Redaktion entschied, was relevant war und was nicht. Wikipedia hat den Zugang zum Weltwissen revolutioniert. Die Inhalte sind kostenlos, umfassender und aktueller. Und vor allem entstehen sie demokratisch. Alle können mitschreiben.

Das freie Projekt hat geschafft, was sonst nur Big Tech gelingt: Wikipedia hat ein Quasimonopol und lässt auf dem Markt der Online-Enzyklopädien nur in Nischen Platz für Wettbewerber. Es zählt nicht, was im Spiegel, auf Zeit Online oder in der New York Times steht – erst auf Wikipedia werden Informationen dauerhaft Teil des Wissensschatzes der Menschheit.

Wie verantwortungsvoll geht das Inhalteprojekt mit dem immensen kulturellen Einfluss um? Wie kann ein stimmiges Ganzes entstehen, wenn alle mitschreiben können?

Sichter, Admins und Bürokraten

Wie bei vielen freien Projekten geschieht die eigentliche Arbeit in der Community. Die allerdings besteht aus mehr als 300 Subgemeinschaften für jede einzelne Sprachausgabe. Die deutschsprachige Wikipedia kommt auf knapp 2,9 Millionen Artikel. Etwa 6.000 regelmäßige Autorinnen und Autoren aus dem DACH-Raum steuern monatlich fünf oder mehr Beiträge bei. Eine mehrstufige Hierarchie mit verschiedenen Rollen strukturiert die Zusammenarbeit.

Auf den ersten Blick können alle, die wollen, mitarbeiten. Allerdings müssen Edits von Nutzerinnen und Nutzern ohne Profil sowie von Neulingen erst von Community-Mitgliedern mit einem höheren Status freigeschaltet werden. Ab 150 erfolgreichen eigenen Bearbeitungen ist man sogenannter Passiver Sichter und eigene Änderungen werden sofort übernommen. Als Aktiver Sichter (ab 300 Edits) kann man Bearbeitungen anderer freischalten oder verwerfen.

Der Zugang zu höheren Hierarchiestufen läuft über Wahlen. Bereits ab 200 Edits – davon mindestens 50 in den letzten zwölf Monaten – hat man aktives und passives Wahlrecht.

Administratoren können User sperren, Artikel löschen und bei Edit Wars finale Entscheidungen treffen. Für diese Position muss man kandidieren und in zwei Wochen mindestens 50 Pro-Stimmen sowie insgesamt doppelt so viele Pro- wie Gegenstimmen auf sich vereinen. Der Status ist nicht zeitlich begrenzt. Die Community kann allerdings die Vertrauensfrage stellen. Wenn 25 User innerhalb eines Monats oder 50 innerhalb eines halben Jahres das fordern, muss man erneut kandidieren.

Bürokraten können Admins nach erfolgreicher Kandidatur ernennen und unter anderem Bots zulassen, die beispielsweise Tippfehler korrigieren. Für diesen Status benötigt man bei einer Kandidatur mindestens 50 Pro-Stimmen. 70 Prozent aller insgesamt abgegebenen Stimmen müssen positiv sein. Spätestens nach zwei Jahren muss man sich einer Wiederwahl stellen.

Lassen sich Konflikte zwischen Usern nicht lösen, kann ein gewähltes Schiedsgericht angerufen werden.

In der deutschsprachigen Community gibt es mit Stand Februar 2024 etwa 45.000 Passive und 22.000 Aktive Sichter, 175 Administratoren und 6 Bürokraten.

Das sind die wichtigsten Stufen. Daneben gibt es noch andere Rollen mit technischen oder projektübergreifenden Rechten. Checkuser können IP-Adressen einsehen, um Sockenpuppen-Accounts zu enttarnen, bei denen eine Person unter mehreren Namen schreibt. Stewards – eine globale, Wiki-übergreifende Rolle – können unter anderem Accounts und IP-Adressen sperren.

Rolle Anzahl
Passive Sichter 44844
Aktive Sichter 21822
Administratoren 175
Bürokraten 6
Checkuser-Berechtigte 5
Schiedsgericht-Mitglieder 9
Stewards (global) 28

Über Themen reden

Neben den hierarchischen spielen auch inhaltliche und regionale Strukturen eine Rolle. In 20 thematischen Redaktionen, die es etwa zu Medizin, Recht, Pflege oder Religion gibt, diskutieren User über inhaltliche Leerstellen, Relevanzkriterien und zulässige oder unzulässige Quellen. Außerdem vernetzt sich die Community über etwa 60 lokale und regionale Stammtische im deutschsprachigen Raum.

Dem Anspruch, ein Projekt von allen für alle zu sein, stehen in der Realität erhebliche soziodemografische Schieflagen entgegen. Vor allem in puncto Geschlecht: Wikipedia ist klar männlich dominiert. In einer globalen, Wiki-übergreifenden Community-Umfrage der Wikimedia Foundation im Jahr 2018 gaben 90 Prozent der Befragten an, dass sie männlich sind. In Debatten, die etwa das Verändern oder Löschen von Artikeln begleiten, sind Frauen tendenziell in der Minderheit.

Wie viel PR steckt in Wikipedia?

Die Inhalte entstehen ehrenamtlich innerhalb der Community. Zumindest in der Theorie. Wikipedia bestimmt das öffentliche Bild von Unternehmen, Parteien, Behörden und Prominenten. Die Versuchung ist groß, die Inhalte aufzuhübschen – aus der eigenen Presseabteilung heraus, mithilfe von PR- oder spezialisierten Wikipedia-Agenturen.

Das Community-Projekt Umgang mit bezahltem Schreiben beantwortet die Frage "Soll ich als bezahlter Autor bei Wikipedia mitmachen?" unentschieden "mit einem klaren Jein". Edits "im eigenen Interesse" seien "nicht explizit verboten". Sie sind aber auch nicht erwünscht. Es werde "ausdrücklich davon abgeraten". Wer bezahlt schreibe, müsse das "unaufgefordert und vorab" offenlegen.

Über eine Mail an ein ehrenamtliches Wikipedia-Supportteam kann man ein Profil verifizieren lassen. Wie groß der Anteil des offenen oder heimlichen bezahlten Schreibens ist, dazu gibt es keine Zahlen. Etwa 17.000 verifizierte Accounts gibt es in der deutschsprachigen Wikipedia, etwa von Aldi Süd, SAP oder diversen CDU-Landesfraktionen und -Kreisverbänden. Auch Golem.de hat einen solchen verifizierten Account, um beispielsweise den Wikipedia-Artikel über Golem.de nicht im Verborgenen, sondern transparent bearbeiten zu können.

Die Organisationssäule: Rechenzentren und Fördergelder

Um die technologische Basis kümmert sich die Wikimedia Foundation, die im US-amerikanischen San Francisco – unweit von Big Tech – sitzt. Mit mehr als 700 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern (Stand Ende 2022) betreibt die globale Mutterorganisation die Webseite wikipedia.org sowie die benötigten Rechenzentren und entwickelt die Mitmach-Software Mediawiki. Der damaligen Geschäftsführerin Katherine Maher zahlte die Foundation für den Zeitraum Juli 2020 bis April 2021 laut dem letzten verfügbaren Jahresbericht ein Gehalt von etwa 800 000 US-Dollar.

Die Foundation finanziert sich fast ausschließlich über Spenden. Zuletzt kamen 170 Millionen US-Dollar zusammen (Geschäftsjahr 7/21-6/22). Eine Schlüsselrolle dabei spielt eine weltweite Spendenkampagne am Ende jedes Jahres.

Ökonomisch befindet Wikipedia sich in einer Luxusposition: Es ist deutlich mehr Geld da, als zwingend erforderlich ist. Über die technische Basisversorgung hinaus macht die Stiftung viel drumherum. Sie sponsert die Vernetzung der Community und übernimmt etwa Reisekosten bei Treffen und Konferenzen. Die Organisation stößt Kooperationen mit Museen und Archiven an, damit diese ihre Inhalte zur Verfügung stellen, und betreibt Lobbyarbeit für Digitalthemen.

Nicht alle in der Community sind davon überzeugt, dass es so breite Strukturen tatsächlich braucht.

Nicht kommerzielles Franchise-System

Um den Herausforderungen eines globalen Inhalteprojekts gerecht zu werden, greift die Wikimedia Foundation auf eine Art Franchise-Strategie zurück. Vor Ort können sich nationale Chapter bilden, die die Stiftung über Kooperations-Verträge anerkennt. 38 eigenständige Landes- und Regionen-Chapter gibt es aktuell.

Der Verein Wikimedia Deutschland – Gesellschaft zur Förderung Freien Wissens ist die größte Landesvertretung. Er hat 160 Angestellte und damit mehr als die globalen Mutterorganisationen von Signal, Tor, Open Street Map und Libreoffice zusammen.

Der Verein unterstützt und bezuschusst die Arbeit der deutschen Community und kümmert sich um Kooperationen und um Lobbyarbeit vor Ort. Die Wissensdatenbank Wikidata, die die Vernetzung und Synchronisierung von Informationen über Sprachausgaben ermöglicht, entsteht vor allem in den Strukturen von Wikimedia Deutschland. Der Verein Wikimedia CH vertritt die Schweizer und Wikimedia Österreich die österreichische Community.

Als einziges Landes-Chapter neben dem Schweizer Wikimedia-Verein organisiert Wikimedia Deutschland eine eigene Spendenkampagne, über ein Tochterunternehmen, die Gemeinnützige Wikimedia Fördergesellschaft mbH. 2022 hat der Verein 14,7 Millionen an Spenden eingenommen. Über eine Art Chapter-Finanzausgleich führt er einen Großteil des Geldes an die Foundation ab. Im Gegenzug erhält er einen kleineren Betrag als nationale Förderung zurück. (2022 flossen 8,8 Mio. Euro als "Mittelweiterleitung" an die Foundation und 3,4 Mio. als Projektförderung wieder zurück.) Zusätzlich hat der Verein eigene Einnahmen durch Mitgliedsbeträge, 2022 waren es 5,1 Millionen Euro.

Globale Wahlen

Die Wikimedia Foundation bemüht sich um eine weltweite Einbeziehung der Community-Mitglieder und der diversen Community-Strukturen.

Zwölf Personen sitzen im obersten Machtgremium, dem Stiftungsrat. Sechs Sitze in diesem Board of Trustees werden über Community-Wahlen vergeben. Die Amtszeit beträgt jeweils drei Jahre. Laut der Satzung sollen die Sitze so vergeben werden, dass jährlich für etwa gleich viele die Amtszeit ausläuft.

Bei der letzten Community-Wahl im Spätsommer 2022 waren zwei Vorstandsposten zu besetzen. Die Wahlen waren zweistufig organisiert: Als Erstes erstellten die Affiliates – organisierte oder informelle, nationale oder thematische Community-Zusammenschlüsse – aus dem Pool aller Kandidatinnen und Kandidaten eine Shortlist.

Im Anschluss stimmte die globale Wikimiedia-Community über eine Liste mit sechs Namen ab. Wahlberechtigt war, wer über ein Profil auf Wikipedia oder in einem Schwesterprojekt verfügte und 300 erfolgreiche Edits vorweisen konnte. Davon mussten 20 aus dem letzten halben Jahr stammen. Etwa 68.000 User waren stimmberechtigt, die Wahlbeteiligung lag bei neun Prozent.

Fünf weitere Vorstandssitze werden selbst rekrutiert vergeben – der Vorstand bestimmt, wer nach Ablauf der Amtszeit neu hinzukommt.

Vom Erotik-Unternehmer zum Wikipedia-Guru

Ein weiterer Sitz ist laut Satzung für den Wikipedia-Gründer Jimmy Wales vorgesehen. Dieser Guru von Wikipedia ist nicht nur das weltweit bekannte Gesicht des nicht kommerziellen Inhalteprojekts. Seine herausragende Rolle ist auch formell festgeschrieben.

Wales war ursprünglich ein klassisch kommerzieller Internetunternehmer. Seine Firma Bomis hatte sich auf Werbe- und Abo-finanzierte Inhalte für eine heterosexuelle, männliche Zielgruppe spezialisiert: Autos, Sport und vor allem Erotik. Wie sich in englischsprachigen Wikipedia-Eintrag zu Bomis nachlesen lässt, hatte sein Unternehmen unter anderem eine Softcore-Bilderplattform namens Bomis Babes im Angebot. Bomis Premium bot Hardcore-Pornografie gegen Bezahlung an, The Babe Engine war eine Erotik-Suchmaschine.

Nupedia, ein gescheitertes weiteres Bomis-Produkt, sollte eine werbefinanzierte Enzyklopädie mit klassischem Konzept werden, bei der ausgewählte Expertinnen und Experten Artikel schreiben. Wikipedia.com war als experimentelle Spielwiese gedacht – verlinkt auf Nupedia.com als "lustiges Projekt", auf dem sich normalsterbliche User ausprobieren können.

Das Nupedia-Konzept ging betriebswirtschaftlich nicht auf. Wikipedia hingegen hob weltweit ab. Das Projekt emanzipierte sich von Bomis und verpasste sich eigene Strukturen. Der Rest ist Geschichte.

Bis heute kann Jimmy Wales im Führungsgremium mitentscheiden. Allerdings gesteht die Satzung Wales zwar einen Sitz zu, der Stiftungsrat hat aber die Möglichkeit, den Gründerposten nicht zu besetzen.

Eine nicht kommerzielle Familie

Wikipedia ist das mit Abstand bekannteste, aber nicht das einzige Projekt der Wikimedia Foundation. Zur Wikimedia-Familie gehören noch zehn weitere Schwesterprojekte mit Mitmachcharakter, etwa das Wörterbuch Wiktionary, die Bilderdatenbank Wikimedia Commons, die Sach- und Lehrbuchsammlung Wikibooks oder der freie Reiseführer Wikivoyage, der nach einem dramatischen Fork im Jahr 2013 Teil von Wikimedia wurde.

Viel Lob und viel Kritik

Man könnte von den "Vereinten Nationen von Wikipedia" sprechen. Hinter dem immens einflussreichen Inhalteprojekt steht ein komplexes Gebilde, bestehend aus mehr als 300 Sprach-Communitys und mehreren Dutzend Organisationen.

Wikipedia wird breit genutzt und erhält viel Lob, aber auch viel Kritik. Die einen kritisieren eine unnütz große Wasserkopfstruktur, andere die vor allem männliche Zusammensetzung der Community, die mitunter toxischen Umgangsformen, die kaum zu kontrollierende Dominanz von PR oder wie auch immer geartete tendenziöse Inhalte. Zugutehalten muss man dem Projekt, dass es sich ernsthaft um offene Strukturen bemüht, um verantwortungsvoll mit der Macht des wichtigsten Mediums der Weltgeschichte umzugehen.

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