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Schwarzbuch Putin

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Ungelesen 29.01.23, 12:23   #1
Uwe Farz
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Standard Schwarzbuch Putin

Lesenswertes Interview mit Galia Ackerman, die zusammen mit Stéphane Courtois ein Buch über Putin verfasst hat:
Zitat:
Ukraine-Krieg
"Schwarzbuch Putin"-Autorin Galia Ackerman: "Das sind Kriegsverbrechen"

Die russisch-französische Historikerin Galia Ackerman kämpft als Chefredakteurin der Medienplattform "Desk Russie" gegen die Desinformation und die "Zombifizierung" ihrer russischen Landsleute


Journalistin Galia Ackerman: "Russland muss die besetzten Gebiete räumen. Dafür müssen wir einstehen."

Das Schwarzbuch Putin von Galia Ackerman und Stéphane Courtois setzt die französische Tradition der Schwarzbücher fort, die der Russland-Historiker Courtois 1997 mit Le livre noir du communisme begründet hatte. In der deutschen Ausgabe kommen zu den russischen und französischen Autoren der Originalausgabe drei Beiträge aus deutscher Sicht. Sie stammen von der Journalistin Katja Gloger, dem Publizisten Claus Leggewie und dem Historiker Karl Schlögel.

STANDARD: Bei einer Demonstration von Ukrainern in Paris skandierten die Teilnehmenden kürzlich: "Putin – Krimineller, Mörder, Terrorist!" Hatten sie recht?

Ackerman: Die Bezeichnungen treffen objektiv zu. Die Kriegsverbrechen der russischen Armee in Butscha und anderswo sind heute belegt. Es begann aber schon lange vor dem Krieg in der Ukraine. Im Tschetschenienkrieg setzte Putin den Terror gegen die Zivilbevölkerung ein. Er ließ zivile Gebäude sprengen, um diese Akte dann den Tschetschenen in die Schuhe zu schieben. In Mariupol gab es auch Anschläge gegen Schulen und Spitäler. Das sind Kriegsverbrechen.

STANDARD: In Ihrem Schwarzbuch beschreiben Sie Putins Regime auch als korrupt, kleptokratisch und mafiös.

Ackerman: Putin hat sein Land buchstäblich privatisiert und an seine Freunde verteilt. Zugleich unterdrückt er die öffentlichen Freiheiten und verschreibt seinem Land eine imperialistische Politik gegen ein Land, das ihm nichts angetan hat, mit einem Angriffskrieg, den er nicht so nennt. Eine Unwahrheit mehr.

STANDARD: Sie zitieren in Ihrem Buch den russischen Systemkritiker Alexander Solschenizyn, der sagte, dass ein Gewaltregime notgedrungen ein Lügenregime sei.

Ackerman: Lügen ist das Markenzeichen des Putin-Regimes, so wie es ein Markenzeichen des Geheimdienstes KGB war. Sogar die Massaker von Butscha suchten sie den Ukrainern anzukreiden. Vor wenigen Tagen behauptete die russische Armeeführung, sie habe in Kramatorsk als Rache für den Silvesterangriff der Ukrainer 600 ukrainische Soldaten getötet. In Wahrheit wurden zwei Schulen und acht Wohnhäuser getroffen, in denen sich keine Soldaten verschanzt hatten. Lügen gehört zu Putins System. Er tut das nicht nur zu Propagandazwecken, sondern auch, um zu verwirren. Als der russische Oberst Sergei Skripal in London vergiftet wurde oder als der Flug MH17 der Malaysia Airlines abgeschossen wurde, reagierte der Kreml gleich: Er publizierte mit der Zeit mehrere Versionen, die sich widersprachen. So wissen die Leute nicht mehr, was sie glauben sollen.

STANDARD: Betreibt Putin genozidäre Politik?

Ackerman: Ja, wenn man nicht nur auf die Menge der umgebrachten Menschen abstellt, sondern auf die Absicht, eine Nation auszulöschen, wie es Putin mit der Ukraine vorhat. Im Zweiten Weltkrieg begann der Genozid der Nazis an den Juden auch nicht erst mit der Wannsee-Konferenz; die Absicht war viel älter. Im Moskau zirkulieren Publikationen und Meinungen, die offen zur Vernichtung der Ukrainer aufrufen. Ein Genozid ist nicht nur ein Massenmord, er besteht auch darin, einem Volk zum Beispiel die Identität, Freiheit oder die Religion abzusprechen. Und das geschieht heute in der Ukraine.

STANDARD: Gehört dazu auch die Deportation ukrainischer Kinder durch die Russen?

Ackerman: Absolut. Mindestens 10.000 Kinder wurden in "Filtrationslagern" von ihren Eltern getrennt oder aus ukrainischen Heimen nach Russland gebracht. Dort werden sie in Einrichtungen untergebracht oder von russischen Familien adoptiert. Dass Kinder ihrer Eltern beraubt werden und einen neuen Namen und Pass erhalten, ist Teil einer grausamen genozidären Praxis.

STANDARD: In Ihrem Schwarzbuch heißt es an einer Stelle, der Unterschied zwischen Putin und Hitler bestehe darin, dass es den Nazis gelungen sei, eine Massenbewegung zu organisieren. Abgesehen davon ist der Vergleich zulässig?

Ackerman: Sinnvoller ist der Vergleich mit Stalin. Putin verherrlicht ihn mehr und mehr. So auch den "Großen Vaterländischen Krieg", wie der Zweite Weltkrieg in Russland genannt wird. Das "unsterbliche und unbesiegbare" Volk wird glorifiziert. In Petersburg wurden Riesenporträts von Kriegsveteranen an Fassaden gehängt. Die Ehre, für das Vaterland zu sterben, wird wie ein Todeskult zelebriert.

STANDARD: Das klingt totalitär.

Ackerman: Noch ist das Putin-System nur beschränkt totalitär; ich würde es eher als autokratisch bezeichnen. Fakt ist, dass es zwischen Putin und Stalin viele Ähnlichkeiten gibt. Nicht nur die Verherrlichung des Krieges, sondern auch die verbreitete Paranoia, vor einem Attentat auf die eigene Person.

STANDARD: Die Putin-Clique steht nicht allein da mit ihrem Nationalismus oder "Raschismus", wie Experten die Kombination aus Russland und Faschismus nennen. Wortführer im Fernsehen führen den gleichen Diskurs. Und das Publikum applaudiert, feiert Putin bei seinen Auftritten, was nur zum Teil inszeniert wirkt.

Ackerman: Stimmt, autokratische Regime halten sich nicht allein mit Staatsterror an der Macht, sie brauchen auch eine Unterstützung im Volk. Die Manipulation findet seit Jahren in Talkshows und anderen Sendungen statt, flankiert von patriotischen Filmen und Massenkonzerten mit "vaterländischen" Liedern. Viele Leute glauben mittlerweile die Hirngespinste von der Notwendigkeit der "Entnazifizierung" der Ukraine. Vor allem seit der dritten Wahl Putins 2012 gibt es eine "Zombifizierung" der russischen Gesellschaft. Man folgt zombiegleich dem offiziellen Diskurs.

STANDARD: Hat Westeuropa diesen Diskurs und auch die Manipulation der russischen Massen bis zum Krieg in der Ukraine verdrängt?

Ackerman: Zweifellos. Wir alle wollten glauben, dass Russland nach dem Fall der Sowjetunion wieder ein normales Land sei. Als Putin sagte, er werde seinem Land die "Größe" zurückgeben, sahen wir nicht, wie gefährlich diese Ankündigung war. Wir verziehen ihm, als er Tschetschenien drangsalierte, und auch, als er Georgien zum Krieg provozierte. Nur die Aufnahme Georgiens in die Nato hätte Putin abgehalten, seine Pläne umzusetzen. Putin begann erst nachher, seine Armee zu reformieren und die Gesellschaft zu militarisieren. Heute wissen wir, dass er auch das Gas als Waffe einsetzt. Doch die Deutschen wollten das nie sehen. Sie meinten, es gehe mit Putin nur um Handel und Wirtschaft.

STANDARD: Ihr Schwarzbuch zeichnet detailliert nach, wie Moskau die deutsche "Ostpolitik" instrumentalisierte.

Ackerman: Die Ostpolitik Berlins galt zuerst der Wiedervereinigung Deutschlands, was ein legitimes Ziel war. Später wollte man in Berlin nicht sehen, dass es Putin längst nicht nur um Wirtschaftsbeziehungen ging. Er holte ja nicht nur Gerhard Schröder auf seine Seite, sondern Hunderte, ja Tausende von deutschen Politikern, Beamten und Industriellen.

STANDARD: War das naiv von Deutschland?

Ackerman: Eher blind. Deutschland hat sich wirksam entnazifiziert, aber es hat ein starkes Schuldgefühl gegenüber Russland bewahrt. Deshalb zögern die Deutschen, Waffen an den militärischen Gegner der Russen zu liefern. Sie übersehen, dass Russland nicht der einzige Erbe der Sowjetunion ist. Belarus und die Ukraine haben unter der Invasion der Wehrmacht ebenfalls gelitten. Sie blieben jedoch eine Art weißer Fleck für die deutsche Ostpolitik. Dabei hätte Deutschland eine ebenso große Verantwortung für die Ukraine.

STANDARD: Ist die langjährige Blindheit Europas gegenüber dem kriminellen Charakter des Putin-Regimes nicht auch dadurch zu erklären, dass es bis vor kurzem schlicht unvorstellbar schien, dass das kulturell reiche, größte Land der Erde ein "Schurkenstaat" wird?

Ackerman: Gut möglich. Russlands Größe ist allerdings relativ: Ein Großteil des Landes ist im Permafrost und damit unproduktiv; zahllose Russen leben zudem in einem schwarzen Elend. Ihr Land hat die Wirtschaftskraft eines Landes wie Spanien – nicht zu vergleichen mit den USA, der EU oder China.


"Gehorche!"-Sticker auf einer Anti-Putin-Demo, die schon 2012 in Moskau stattfand.

STANDARD: Dass die Ultrarechte in Westeuropa – AfD in Deutschland, Le Pen in Frankreich – Putin "versteht", erstaunt nicht. Warum aber denken auch vernünftige Bürgerliche und Konservative vereinzelt so?

Ackerman: Sie folgen zu stark der Realpolitik, und sie denken, die Ukraine sei weit weg, nicht einmal in der EU oder der Nato. Vor allem aber wirkt der russische Einfluss. Schröder hält nicht als Einziger zu Putin. In Frankreich gilt das für Ex-Premier François Fillon oder Ex-Präsident Nicolas Sarkozy, der für seine Nähe zu Putin 300.000 Euro erhalten haben soll, wie das Newsportal Mediapart dieser Tage berichtete. Am Ursprung spielen zwei starke Grundströmungen mit – in Berlin wie gesagt das Schuldgefühl, in Paris der Antiamerikanismus.

STANDARD: Wie schätzen Sie Emmanuel Macrons Haltung ein?

Ackerman: Der französische Präsident wünscht den Sieg der Ukraine, er schickt ihr neuerdings auch leichte Panzerfahrzeuge. Zugleich will er auch bei der Suche nach einer Friedenslösung vermitteln. Deshalb sagt er, man dürfe Russland nicht demütigen.

STANDARD: Welche Zukunft sagen Sie Putin voraus?

Ackerman: Ich glaube nicht an einen schnellen Sturz seines Regimes, auch wenn es auf der Lüge basiert. Polizei und Armee bleiben ihm vorläufig treu. Machthaber wie Putin sind sehr schwer abzulösen.

STANDARD: Könnten Hardliner wie Jewgeni Prigoschin, der Gründer der Privatarmee Wagner, Putin beerben?

Ackerman: Prigoschin hat nicht das Zeug zum Staatschef, er ist ein bloßer "Opritschnik", wie die Schergen und Henker unter Iwan dem Schrecklichen hießen. Schlimm genug: Die kriminelle Bande der Wagner-Söldner, die auch aus entlassenen Gefangenen besteht, wird in Russland mit Orden geehrt.

STANDARD: Sind demokratische Nachfolger denkbar?

Ackerman: Vorerst nicht. Auch Alexei Nawalny wird nicht aus dem Gefängnis in den Kreml gelangen.

STANDARD: Wie könnte der Krieg in der Ukraine ausgehen?

Ackerman: Er darf nur mit dem Sieg der Ukraine enden. Russland muss die besetzten Gebiete räumen. Dafür müssen wir einstehen. Aber ich gebe zu, ich bin mir nicht sicher über den Ausgang dieses Krieges. Russlands Stärke sind seine Ressourcen und seine Fähigkeit, sie zu mobilisieren. Das hat sich im Zweiten Weltkrieg gezeigt.

STANDARD: Kann man mit Putin verhandeln?

Ackerman: Nein, es gibt mit Putin nichts zu verhandeln, solange er ein souveränes Nachbarland besetzt. Nachher, ja. Vorläufig aber ist es ein Kampf um die Unabhängigkeit eines Landes, und auch um unsere Freiheit.

STANDARD: Die Demokratie hat zuletzt noch immer über den Faschismus gesiegt. Wird das auch jetzt der Fall sein?

Ackerman: Früher hätte ich die Frage bejaht. Die aktuelle Epoche macht mich unsicher. Diktatorische Regime wie in Nordkorea halten sich seit langem. Die chinesischen Kommunisten ebenfalls seit 1949. Und die westlichen Gesellschaften sind geschwächt, sie leiden unter dem Aufkommen der Populisten, dem Niedergang der Parteien sowie einer Spaltung der Gesellschaft. Es ist traurig zu sehen, dass der Autokratismus weltweit an Boden gewinnt.

(Interview: Stefan Brändle, 29.1.2023)



Galia Ackerman, geb. 1948, ist eine französisch-russische Autorin, Historikerin, Journalistin, Übersetzerin und Forscherin an der Universität Caen mit dem Schwerpunkt Ukraine und postsowjetische Staaten.

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