Wenn Triage nur ein anderes Wort für Selektion ist: Die Coronakrise zeigt, wie die Verwertbarkeit von Menschen über ihr Weiterleben entscheidet.
11.04.2020, 17:49 Uhr
Dwi Anoraganingrum/ imago images/Future Image
Die Gesellschaft wird nach Corona eine andere sein, lese und höre ich, seit die Seuche in Italien ausbrach. Also, falsch, damals las und hörte ich noch nichts, keine Hilfskonvois, keine Herz-für-Italien-Aktionen, das vereinigte starke Europa war damit beschäftigt seine Grenzen zu schließen.
Als die Pandemie erst die Schweiz und etwas verzögert Deutschland erreichte, wurde aus der chinesischen Seuche, aus der italienischen Seuche, die Seuche der Alten, der Schwachen, der Boomer. Sie wissen schon, jene Bevölkerungsschicht, die man als Mensch unter 45 abwerten und diskriminieren kann, weil es hip ist und von einem politisch regen Verstand zeugt.
Zitat:
Sibylle Berg
Joseph Strauch
Jahrgang 1962, ist Schriftstellerin und Dramatikerin. Zuletzt erschien 2019 ihr Bestseller-Roman "GRM. Brainfuck" im Verlag Kiepenheuer & Witsch. Berg wurde für ihre literarische Arbeit vielfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem "Bertolt-Brecht-Preis" und dem "Schweizer Grand Prix für Literatur".
Als die Seuche noch ein Spaß war, man ihr mit Partys auf Wiesen begegnete, gab es warmherzige Momente. An Laternen klebten Zettel, auf dem Einkaufsdienste angeboten wurde, Websites für Nachbarschaftshilfe wurden eingerichtet, Menschen sangen und klatschten auf Balkonen, Sorgentelefone brummten bis - die Lage ernst wurde.
Die ersten Firmen entließen ihre Angestellten, Deutsche saßen auf den Philippinen fest, Schweizer in St. Barth und dass zehntausend Menschen auf Lesbos im Dreck hockten, darauf konnte in diesem Fall keine Rücksicht genommen werden. Virologen reden von einer Marathonstrecke, und die Angst um das Überleben, hauptsächlich im finanziellen Sinn, machte alle Menschen gleich. Also alle, bis auf sehr Reiche, aber egal.
Und mit den finanziellen Sorgen und der Angst in der Ungewissheit tauchten plötzlich Lösungsvorschläge auf. Seit dem 21. März würden Patienten, die älter sind als 80 Jahre, nicht mehr beatmet. Stattdessen erfolge "Sterbebegleitung mit Opiaten und Schlafmitteln". Stand im "Tagesspiegel" - danach häuften sich die Beiträge, die man nur als Aufforderung zur Entsolidarisierung lesen konnte.
Am 31. Dezember wandte sich China erstmals an die Weltgesundheitsorganisation (WHO). In der Millionenstadt Wuhan häuften sich Fälle einer rätselhaften Lungenentzündung. Mittlerweile sind mehr als eine Million Menschen weltweit nachweislich erkrankt, die Situation ändert sich von Tag zu Tag. Auf dieser Seite finden Sie einen Überblick über alle SPIEGEL-Artikel zum Thema.
"Sie lassen uns sterben", sagte mir eine über 80-jährige Freundin. Gesund. Humorvoll, berufstätig. Da haben sie Hitler überlebt, den Holocaust, den Krieg, den Aufbau Europas, um jetzt aussortiert zu werden. Als würde ein Mensch nicht immer an seinem Leben hängen, weil er doch nur eines hat. Weil sich doch keiner alt fühlt und gehen will.
Neuer Sozialdarwinismus
Professor Wilhelm Heitmeyer schreibt mir: "Die Entwicklung gebiert nur eine weitere Form eines neuen Sozialdarwinismus; das überrascht mich nicht. Das kapitalistische Denken ist doch immer von den Kriterien wie Nützlichkeit, Verwertbarkeit und Effizienz bestimmt. Wir sind eben nicht mehr nützlich. So einfach ist das.
Der landnehmende Kapitalismus muss immer tiefer zerstörend in die Gesellschaft eindringen, um sich selbst zu erhalten. Ein lange bekanntes Beispiel ist das Gesundheitswesen. Es ging doch schon lange nicht mehr um Gesundheit als Menschenrecht, sondern um die Rechte auf Rendite der Kapitaleigner, mithilfe willfähriger Politikerinnen und Politiker. Jetzt sind wir Älteren eben dran. Wir sind nur finanzielle Kollateralschäden."
Der Todeskult Kapitalismus mit seinem zurechtgesparten und privatisierten Gesundheitswesen - die mangelnde Voraussicht von Gesundheitsministerien wird nun ins Private ausgelagert, wird zur Verpflichtung der älteren Menschen, Platz zu machen, wird zu Entscheidungen von Ärztinnen und Pflegenden gemacht, in die Endschlacht um die Verwertbarkeit.
Selektion, oder elegant französisch Triage, nimmt Pflegende in die Verantwortung und lastet ihnen das politische Versagen auf. Das, im reichen Europa jenseits der Ferien-Entscheidung als Mensch zu entscheiden, wie und wo man sterben möchte, eine öffentliche Diskussion darüber geführt wird, ist eine Bankrotterklärung der Marktwirtschaft. Und der Menschlichkeit.
Vielleicht sind darum Ratten geeigneter, um nach dem Aussterben unserer Spezies die Erde zu bevölkern, denn sie riechen, wenn ein Mitglied ihrer Spezies hungrig ist und füttern es.
Der Artikel trifft es ziemlich gut. Die Generation Me trifft auf einen Erreger der Schwerpunktmäßig die Alten und Schwachen dahin rafft. Da ist die eigene Freiheit und der Profit deutlich wichtiger. Obwohl ich mir sicher bin, wäre es ein Erreger der in gleichem Ausmaß Kinder dahin raffen würde, sofort jeder alles menschenmögliche tun würde. Ein Herz für Kinder appelliert wohl an letzte rudimentäre Reste von Mitgefühl.
Wir hatten schon in vorhergehenden Krisen eine deutliche Polarisierung in der Gesellschaft. Ich denke es ist eine fortschreitende Entwicklung. Mit Corona kamen wir nochmal mit einem blauen Auge davon. Es ist aber ein Vorgeschmack, was uns erwartet sollten wirklich harte Zeiten auf uns zu kommen.
Dieses System ist nicht überlegen und wir müssen etwas gesellschaftlich und ökonomisch verändern. Die Party war schön, aber man muß irgendwann nüchtern werden und der Realität in's Auge schauen, bei uns und weltweit.
Die Generation Me trifft auf einen Erreger der Schwerpunktmäßig die Alten und Schwachen dahin rafft.
Das ist falsch.
Der Virus ist für die gefährlich, die bereits Vorerkrankungen haben, z.b. Asthma, anderen Lungenerkrankungen, schwaches Immunsystem, Diabetes, Herzerkrankungen usw. - das kann und betrifft genauso junge Menschen.
Das viele älteren sterben, liegt in der Natur der Sache, da diese in der Regel irgentwelche Vorerkrankungen haben und durch Alten-/Pflegeheime ein deutlich erhöhtes Infektionsrisiko haben.
Das ist falsch.
Der Virus ist für die gefährlich, die bereits Vorerkrankungen haben, z.b. Asthma, anderen Lungenerkrankungen, schwaches Immunsystem, Diabetes, Herzerkrankungen usw. - das kann und betrifft genauso junge Menschen.
Es sind auch junge Menschen und selbst Jugendliche ohne Vorerkrankungen an Covid-19 gestorben. Der Virus ist potentiell tödlich für jeden, mit Vorerkrankungen und Alter steigt das Risiko eines schweren Verlaufes und Todes. Das ist anerkannter Stand der Wissenschaft.
Zitat:
Wir sehen aktuell nicht nur ältere Patienten mit symptomatischer Covid-19-Erkrankung", berichtet Clemens Wendtner, Chefarzt der Infektiologie und Tropenmedizin der München Klinik Schwabing. "Zum Teil sind die Patienten Anfang dreißig und ohne Vorerkrankungen. Da gibt es auch leider keinen Unterschied in der Verteilung zwischen Normal- und Intensivstation.[ Link nur für registrierte Mitglieder sichtbar. Bitte einloggen oder neu registrieren ]
Zitat:
"Niemand ist für dieses mutierte Virus unbesiegbar"
In Frankreich ist eine 16-Jährige an Covid-19 gestorben. Mutter und Schwester wollen andere warnen: Die Menschen sollten aufhören zu glauben, dass nur ältere Personen gefährdet seien.[ Link nur für registrierte Mitglieder sichtbar. Bitte einloggen oder neu registrieren ]
Sybille Berg hat recht und zwar mit jeder Zeile. Leider fehlt ein wesentliches Element, damit der Artikel wirklich gut wird, und zwar woher denn diese Entwicklung herkommt. Die fiel nicht vom Himmel oder ist gar "natürlich" - sie ist von Menschen gemacht. Sicher scheiterten entsprechende Zeilen bei der Chefredaktion, denn diese haben mehrmals Titelstories gebracht, die Menschenwürde nach Kassenlage propagierten. Kleine Auswahl bzgl der Alten gefällig?
Von den ganzen Artikeln zu schweigen, die natürlich die Generationengerechtigkeit beklagen, dass die Jungen die Alten nicht mehr finanzieren könnten, und man nun vor allem über kapitalgedeckte Finanzierungsmodelle nachdenken müsse. Und da sind wir nur beim Spiegel. Das Thema wurde von anderen Publikationen teilweise öfter aufgegriffen. Da man die eigene Rolle in dieser Entwicklung lieber verschweigt, bleibt es bei der Betroffenheitsrhetorik.
In einer Gesellschaft, in der die Degradierung von Menschen auf ökonomische Kenngrößen propagiert wird, sind wir nicht weit davon entfernt Menschen per se abzuwerten. Dann sind wir bei AfD und "Wirtschaftsflüchtlingen". Oder eben bei über 80-jährigen deren Anspruch auf Behandlung ökonomisch nicht gerechtfertigt ist. Kritiker haben damals vor einer entsprechenden Entwicklung gewarnt, aber das waren eben "Sozialromantiker" die die Augen vor den "Sachzwängen" verschließen. Aber am Ende ging es nur darum Kapitalmärkten Zugang zur öffentlichen Daseinsvorsorge zu verschaffen.
Corona ist hier als Warnschuss zu verstehen, als würde uns jemand unsere Fehler ein letztes Mal vor Augen halten wollen. Die Herausforderungen des 21. Jhd werden wir als Zivilisation nicht überstehen wenn sich jeder selbst der Nächste ist.
Die folgenden 4 Mitglieder haben sich bei Nana12 bedankt:
Zumindest die Generation "die Alten haben uns sowieso nichts zu sagen, die sterben ja eh bald" kann sich "freuen". Die Alten sterben weg, es werden viele Wohnungen frei, die Rentenkasse wird entlastet... Die wären doch eh alle gestorben mit den Vorerkrankungen - egal ob mit oder ohne Corona. Wenn man auf Facebook Kommentare unter den Corona Artikeln liest dann wird einem schlecht wenn man auch nur ein wenig sozial denkt. So viel hausgemachte Menschenverachtung!
Es wird interessant ob ab 20.4. die Bestimmungen gelockert oder gar aufgehoben werden. Diese Anwältin die alle Maßnahmen als menschenverachtend und tyrannisch bezeichnet hat und eine Niederlage vor Gericht kassierte wird sich dann freuen wenn unsere Regierung wirklich nachgibt.
Es wird auch interessant werden wie sich Ramadan auf die Vorgaben auswirkt sofern diese - unter Umständen - vielleicht doch nicht gelockert werden sollten. Das sind Familienfeiern.
Schon jetzt lassen sich doch Massenansammlungen (egal ob Deutsche oder Migranten) nicht wirklich gut unter Kontrolle bringen. Ob nun in Parks beim gemeinsamen chillen oder auch vor Moscheen wie es auch schon in diversen Artikeln zu lesen war.
Geändert von Kirkwscks4eva (12.04.20 um 13:13 Uhr)
Die Bankrotterklärung hatte sich vorher schon angedeutet, Corona ist die Stunde der Wahrheit. Hier die Innenansicht eines Altenpflegers.
Lieber Herr Müller, liebes NachDenkSeiten – Team,
im Essay „Über die Engstirnigkeit politischer Entscheidungen und ihre Popularität.“ vom 7.4.2020
haben Sie Positionen und Leserbriefe im Bezug auf den Umgang mit den Alten im Teil II
veröffentlicht. Nun, ich arbeite seit 6 Jahren in der Altenpflege. Sowohl stationär als auch ambulant. Und speziell bei den Leserbriefen kam mir der Gedanke, Ihnen und ihrer Leserschaft einmal ein
paar Dinge über die aktuelle Lage zu erzählen.
Ich bin seit 3 Jahren in einer privat betriebenen Kleinsteinrichtung (unter 30 „Senioren“) im
Schweizer Grenzgebiet auf deutscher Seite tätig, als voll examinierte Altenpflegefachkraft.
Monatlich verdiene ich brutto 2.900 Euro, mit Schicht- und sonstigen Zulagen komme ich knapp
über 3.100 brutto. Als Alleinstehender heißt das etwa 2.100 ausbezahlt.
Dafür muss ich in der Regel als einzige Fachkraft die Schichtleitung übernehmen, unterstützt von
bis zu 3 Helfern und/oder Pflegeschülern. Das bedeutet, ich soll aufpassen, dass die ihre Arbeit
richtig machen, muss Medikamente verabreichen, Notfälle behandeln, die Zusammenarbeit mit
Hauswirtschaft und Betreuungskraft (so vorhanden) koordinieren, mit Hausärzten und Fachärzten
sowie Physiotherapeuten Fälle besprechen, mit Angehörigen und gesetzlichen Betreuern Probleme besprechen, für den MDK alles schriftlich festhalten, und nebenher noch jeden eingehenden
Telefonanruf annehmen, wenn das Büro mal wieder nicht besetzt oder nicht verfügbar ist. Nebenher muss ich noch Grundpflege bei vier Personen durchführen, also waschen, anziehen, zum Essen
bringen oder eingeben.
Das alles in 8 Stunden. Theoretisch stünde mir eine halbe Stunde Pause pro Schicht zu, aber daraus wird in der Regel nichts. Erfasst wird das übrigens in der Regel nicht. Man hat meistens noch nicht mal dafür Zeit.
Vor diesem Hintergrund läuft seit Anfang März das Corona – Krisenprogramm in unserer
Einrichtung. Die Heimleitung hat gleich bei den ersten Meldungen versucht, Schutzausrüstung zu
organisieren, Notfallpläne erstellt und das Haus fast vollständig abgeriegelt. Wir wurden gefragt,
wer von uns im Ernstfall bereit wäre, sich in der Einrichtung bei Vollquarantäne aufzuhalten – also mindestens 14 Tage am Stück nicht mehr nach Hause zu gehen, sondern in der Einrichtung zu
leben. (Fragen nach Platz dafür, wie dann die Arbeitszeiten eingehalten werden sollen etc. wurden
erst mal übergangen.) Wir bekamen die Anweisung, uns außerhalb der Arbeit selbst unter
Quarantäne zu stellen.
Mitte März traten dann bei einer Bewohnerin Fieber, Husten und Atemprobleme auf. Das Haus
wurde sofort für Besuch von außen gesperrt, die Person wurde isoliert. Die Hausarztpraxis
ignorierte unsere Nachrichten und unsere Forderung nach Test auf COVID-19, das Gesundheitsamt hielt den Fall für nicht testwürdig. Besagte Bewohnerin ist zusätzlich auch sehr daran gewohnt, frei herumzulaufen und verstand nicht, warum sie das auf einmal nicht mehr durfte. Es kam zu
massivem Abbau der geistigen Fähigkeiten, sie brauchte mehr Hilfe bei der Pflege, aber allein
schon beim Anblick des Personals in Schutzkleidung fing sie an zu schreien, um sich zu schlagen
und zu beißen. Wir hätten eigentlich zu zweit sein müssen… aber die Heimleitung hatte im
Versuch, Personalressourcen zu sparen, die Besetzung auf 3 Pflegekräfte pro Schicht reduziert und die Schichtzeiten verlängert. Für 24 Personen auf 3 Stockwerken, davon die Hälfte dement, die
meisten inkontinent.
Und natürlich sollten wir den Betrieb normal weiterlaufen lassen. Hauswirtschaft kam nur noch im Frühdienst, die Putzkraft hatte sich nach einer Woche krank gemeldet. Unter diesen Umständen war vorgesehen, 3 Tage am Stück zu arbeiten und dann 3 Tage frei zu bekommen. Für die
Arbeitszeitkonten bedeutete das ein massives Minus – von meinen 90 Überstunden Anfang März
waren am Monatsende noch 70 übrig.
Daß es da zu psychischen Krisen beim Personal kam – wen wunderte es? Eine Krankenschwester
vom Balkan, die etwas vor mir in der Einrichtung angefangen hatte, fing an, ihren gesamten Frust
und ihre Wut an mir abzulassen. Dummerweise bin ich ein Mann, zehn Jahre älter als sie und nicht
so lange dort beschäftigt. Als ich ihr klarzumachen versuchte, dass das so nicht geht, bekam sie
einen Wutanfall und verkündete, nicht mehr mit mir arbeiten zu wollen. Sie unterstellte mir
Unfähigkeit bei der Arbeit, und der Blumenstrauß, den ich ihr drei Wochen vorher aus Nettigkeit
zum Geburtstag geschenkt hatte, war auf einmal ein Zeichen dafür, daß ich ihr an die Wäsche gehen wolle. Meinem Protest gegen diese Auslegung glaubten offenbar die wenigsten, da so etwas genau
die Art Tratsch ist, die gerne von Frauen verbreitet wird… aber das ist ein anderes Thema.
Zum Glück hatte ich gerade die Heimleitung und eine Zeugin, die meine Seite unterstützte, zur
Hand. Anfang April wurde darum noch einmal der gesamte Plan über den Haufen geworfen, auf
Schichten zu viert umgestellt und der 3-Tages-Rhythmus weggeworfen. Die
Krankenschwester/Pflegehelferin (so musste sie offiziell eingesetzt werden) bekam eine andere
Schicht mit anderen Kollegen zugewiesen; da die Schichten keinen Kontakt miteinander haben
sollen, herrscht seither mehr Ruhe für mich.
Nun lese ich von Ausgangssperren für „Senioren“. (Nebenbei, kürzlich fand ich in einem alten
Auftritt von Georg Schramm ein passendes Wort: „Wenn jemand von Senioren redet, hat er mit den Alten nichts Gutes im Schilde!“) Diese Sperre erlebe ich schon seit einem Monat! Ich kann hier
gerne mal Folgen aufzählen:
- Demente mit „Hinlauftendenz“ (ein neoliberaler Schwachsinnsbegriff. Diese Leute sind auf der Flucht vor der Realität, mit der sie nicht mehr klarkommen. Schönfärberei bringt da NICHTS!) werden reihenweise in Wahnzustände verfallen, wenn man sie nicht mehr frei laufen lässt. Sie
werden anfangen, das Personal zu verprügeln, Zimmer zu demolieren, Türen und Fenster
einschlagen wollen, weil sie ihnen im Weg sind. Solche Leute sind dann psychiatrische Notfälle.
Aber unter diesen Bedingungen einen Psychiater zu einer Visite kriegen? Unmöglich. Die sind
schon unter Normalbedingungen selten. Psychiatrische Kliniken? Nehmen keine Neupatienten,
„wegen COVID – 19“. Habe ich selbst erlebt, bei einer Alkoholikerin im Delir. Sie ließ sich nicht
versorgen, spuckte einem die Medikamente entgegen, verschmierte ihre Exkremente im Zimmer –
die Tür hatte sie mit dem Rollator blockiert -, ließ sich nicht waschen und wusch sich auch selbst
nicht, und mit der Schutzausrüstung für Quarantänepatienten, die wir mangels Platz auf den Flur
stellen mussten, verstopfte sie die Toiletten. Irgendwie bekam die Heimleitung sie trotzdem aus
dem Haus. Nebenbei bemerkt, wäre sie Privatpatientin gewesen, hätten wir sofort einen Platz in
einer Klinik vor Ort bekommen.
- Geistig klare Leute werden mit Demenzpatienten zusammengesperrt. Das ist schon unter
Normalbedingungen Folter für diese Leute. Sie müssen mit ansehen, was aus ihnen werden kann,
haben niemand, mit dem sie normal reden können (das Pflegepersonal wird schließlich hierzulande nicht zum Reden bezahlt). Ich habe mit solchen Fällen zu tun. Seit einem Monat betteln sie mich
an, ich solle ihnen was geben, damit sie nicht mehr aufwachen. Sie sind kaum aus dem Bett zu
bekommen, sperren sich ein und warten nur noch auf den Sensenmann.
- Angehörige, die Wert auf ihre Verwandten im Heim legen, sind ebenfalls am Verzweifeln.
Wie oft ich mittlerweile schon die Frage gehört habe, was sie denn machen können… und wie oft
ich antworten musste, dass ich es auch nicht weiß… Wir haben rechtzeitig Gerätschaften für
Videotelefonie angeschafft, aber bei nicht gerade wenigen unserer Alten ist das nicht gut
angekommen. Ziemlich einhellig meinten sie, das sei einfach kein Ersatz. Am praktischsten ist es
natürlich für die, die einfach nur ihre Alten loswerden wollten oder für die Betreuer, für die ihr Amt
nur lästige Pflicht ist. Die haben jetzt eine Ausrede dafür, warum sie sich um nichts kümmern
wollen – und leider ist das gar nicht mal so selten.
- Hausärzte. Ein unendliches Thema. Es gibt diejenigen, die sich für ihre Patienten in den
Heimen einen Dreck interessieren. Musste man diese Herrschaften schon vorher wegen Rezepten
oder Visiten geradezu anbetteln, ist es jetzt noch mal schlimmer geworden. Der Hausarzt, der auf
unsere
Alarmmeldung einfach nicht reagierte, lässt unsere Anfragen aktuell von den Praxishilfen mit
Hinweis auf „Unterbesetzung“ abweisen. Dabei sind auch wichtige Anfragen, zum Beispiel
entgleiste Blutzuckerwerte oder Wundbehandlungen!
Es gibt zum Glück auch andere. Aber ich schreibe hier aus einer sehr ländlichen Gegend. Wie es da mit Hausärzten aussieht, sollte bekannt sein. Vor zwei Jahren fand ein Hausarzt aus meinem Ort
einen Nachfolger. Das kam sogar ins Fernsehen! Kein Lokalsender – der SWR drehte daraus eine
halbstündige Doku, die erst letztes Jahr wiederholt wurde.
Und wenn wir doch mal einen Arzt dringend brauchen? Der Bereitschaftsdienst ist in der Regel erst ab 17 Uhr verfügbar. Und einer davon ist gerade der, den ich hier als abschreckendes Beispiel
gebracht habe.
Leider sind wir in der Pflege für alles auf eine ärztliche Verordnung angewiesen. Wir dürfen noch
nicht einmal Sachen geben, die man frei in der Apotheke kriegt, ohne daß es zuerst ein Arzt
angeordnet hat. Wenn uns ein Diabetiker in Unterzucker gerät und das Bewusstsein verliert, müssen wir (eigentlich) erst von einem Arzt das OK haben, um ihm seine Notfallglukose zu geben. In einer Situation, in der es um Leben oder Tod geht!
Das ist übrigens einer der Hauptreibungspunkte zwischen deutschen Pflegekräften und den aus dem Ausland abgeworbenen. Den Ausländern klappt regelmäßig die Kinnlade runter, wenn sie hören,
was wir hier alles nicht dürfen, bei ihnen daheim aber Standard ist. Meine aktuelle stellvertretende
Pflegedienstleitung (die eigentliche ist in Quarantäne) ist so ein Beispiel: sie kam vor 4 Jahren aus Mazedonien. Ausgebildet als Krankenschwester, Fachgebiet Geburtshilfe. Sie kann intravenöse
Infusionen legen, rektales manuelles Ausräumen bei *******r Obstipation (Wenn sie wissen
wollen, was das ist… seien sie vorsichtig bei der Suche) und viele andere Dinge, die hierzulande ein Arzt machen MUSS. Sie hat sich bis heute nicht daran gewöhnt. Sie kann es vermutlich immer noch nicht fassen, dass ich bis heute keine intramuskuläre Injektion setzen kann – ich habe es nie gelernt, weil die Pflegeschule und mein Ausbildungsbetrieb der Meinung waren, darauf könne man doch
verzichten. Wichtiger war, wie man innerhalb 30 Minuten einen Menschen komplett wäscht, Zähne putzt, Medis ‚verabreicht‘, das Bett macht und das Zimmer desinfiziert.
Sie merken, ich habe mich langsam in Zorn geschrieben. Ein Zorn, der mich mittlerweile jedes Mal überfällt, wenn ich das Wort „systemrelevant“ höre. Oder wenn ich von Applaus für Pflegekräfte
höre. Oder von „kostenlosen Brötchen für die Pflegekräfte“.
Und vorgestern kam eine Meldung, daß Verdi und „die Heimbetreiber“ für die Altenpfleger für Juli einen Sonderbonus ausgehandelt hätten. Ich und alle meine Leidensgenossen haben herzlich über
diese Meldung gelacht. Einmal 1500 Euro für Vollzeitler? Und erst im Juli? Jeder, mit dem ich
gesprochen habe, meinte, das würde sie oder er erst dann glauben, wenn sie das Geld in bar in den
Händen hätten.
900 für Azubis? Also für die, die ganz besonders verheizt werden? Die, die die Arbeit einer
vollen Kraft für nicht mal den halben Lohn leisten? Kann ich den Witz noch mal in Farbe hören?
Verdi? Wann hat diese „Gewerkschaft“ denn das letzte Mal wirklich was für ihre einfachen
Mitglieder erreicht?
Die Heimbetreiber? Die sich mit Händen und Füßen gegen die generalisierte Pflegeausbildung
wehren, weil dann die Altenpfleger merken würden, dass sie so ziemlich das gleiche wie
Krankenpfleger lernen, aber noch weniger Lohn dafür kriegen?
Mehr Geld für die Pflege? Nun, lassen Sie mich eine Geschichte erzählen: Meine Einrichtung hat
zum 1. Januar 2020 die Pflegekostensätze erhöht. Aus Gründen. Uns wurden damals
Lohnerhöhungen versprochen, man werde mit jedem von uns darüber reden. Bis zum heutigen Tag fand kein einziges solches Gespräch statt. Aber die Erhöhung für die Heimbewohner kam pünktlich. Was letzten Monat erhöht wurden, waren die „Prämien“ für Zusatzdienste und Einspringen für
ausgefallene Kollegen – oder wie man ehrlich sagen müsste, die Bestechungsgelder für
Selbstausbeutung.
Mir wurde von der Pflegedienstleitung eine Weiterbildung zum Wundexperten angeboten. Das
Angebot lag schon auf dem Tisch. Aber eine Woche später stellte die Heimleitung meine
Motivation in Frage und signalisierte, dass sie mir das nicht zutraue. Der Grund? Es waren
Lagerungspläne nicht ausgefüllt. Die verantwortlichen Pflegekräfte hatten es trotz mehrfacher
Ermahnung meinerseits nicht getan, auch nicht, als ich im Urlaub war. Eine anderweitig frustrierte stellvertretende Pflegedienstleitung beschloss daraufhin, ihre Wut an mir auszulassen – am ersten
Tag, als ich aus dem Urlaub kam, quasi direkt aus der Umkleide. Resultat: Ich denke, diese
Weiterbildung kann ich vergessen. Hat die Firma halt 1.100 Euro gespart.
Es war sowieso ein denkenswerter Urlaub – an meinem Geburtstag kam ein Anruf aus dem Betrieb: Ob ich meinen Urlaub für einen Spätdienst am Wochenende unterbrechen würde, eine Kollegin
müsse umziehen. (Ich sagte: „Nein“ und legte auf.)
So sieht die Realität eines Altenpflegers 2020 in der Coronakrise aus.
Warum ich mir das antue?
Weil ich mir nicht ansehen kann, wie schlecht die Alten behandelt werden und ich die Befürchtung habe, dass es ohne Leute wie mich noch viel schlimmer wäre.
Quasi jeden Tag erlebe ich, wie die alten Leute sich für jeden helfenden Handgriff bedanken. Wie
sehr sie sich freuen, wenn sie merken, dass ihnen tatsächlich mal jemand zuhört. Wenn ich für jedes Mal, wenn jemand zu mir „Sie hören mir wenigstens mal zu“ oder „Vielen Dank“ sagt, einen Euro
hätte, könnte ich mir auch so einen schicken Mercedes – SUV wie meine Chefin leisten…
Im Gegenzug? Kein Privatleben. Keine Beziehung seit Jahren. Seit diesem Jahr kein Glückwunsch zum Geburtstag, keine Weihnachtsfeier für die Heimangestellten. Ärzte, die unsere
Therapievorschläge (und unsere Hinweise zur Händehygiene) für einen Witz halten. Kolleginnen,
zwischen denen Hauen und Stechen herrscht, wer gerade der Liebling der Chefetage wird (ja, der
heilige Wettbewerb ist schon lange in der Pflege angekommen, und die Frauen sind seine eifrigsten Jüngerinnen).
In Krisen lernt man die Leute kennen, heißt es. Wir stehen erst am Anfang, und mir ist jetzt schon
Angst und Bange, welche Monstrositäten darin entstehen werden. Und zu wissen, daß das meiste
davon mit nur etwas mehr Weitsicht und Nachdenken statt Profitgier und sturer Ideologie
vermeidbar wäre…
Ich wünschte, ich könnte mit etwas positiverem enden. Aber mir fehlt eine Vorstellung, was das
sein könnte.
Ich wünschte, ich würde falsch liegen. Aber dazu hat man mir schon zu oft gesagt: „Du hast von
Anfang an recht gehabt.“
Ich wünschte, dieser Bericht könnte etwas ändern. Allein mir fehlt der Glaube.