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04.04.22, 10:38
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INTERVIEW - Jörg Baberowski: «Putin hat keine andere Wahl mehr, als zu siegen, wenn e
Zitat:
Herr Baberowski, Sie haben in einem Artikel in der «FAZ» zur Ukraine geschrieben: «Der Krieg ist wie das Wunder in der Theologie.» Das klingt erst einmal sehr positiv: Gott teilt das Meer, damit es die Israeliten durchschreiten können. Jesus heilt einen Blinden, einen Gelähmten. Warum ist der Krieg ein Wunder?

Ich habe natürlich nicht sagen wollen, dass der Krieg wundervoll sei, sondern dass er wie das Wunder den alltäglichen Lebensvollzug durchbricht. Man glaubt, durch Tradition, Recht und Ordnung von den Furien des Krieges für immer verschont zu sein, und dann bricht plötzlich das Unvorhergesehene über uns herein. Nun kommt zu Bewusstsein, worauf das Leben eigentlich beruht, an welch dünnem Faden es hängt und dass nicht wir es sind, die es in der Hand haben. Wir sind Gäste des Lebens. Wir wissen, dass wir sterben werden, aber wir glauben es nicht. Der Krieg ist die Situation, die uns diese Wahrheit bewusst werden lässt.
Sie haben sich über Jahrzehnte mit Krieg und Gewalt beschäftigt – beide Phänomene ziehen sich als Konstanten durch die Geschichte. Hat Sie der Krieg in der Ukraine aufgeschreckt, oder hat Sie die Forschung schon immunisiert?
Ich hätte es nicht für möglich gehalten, dass Putin Krieg gegen die Ukraine führen würde. Er hätte doch auch auf anderem Weg, durch Drohungen und Erpressung, erreichen können, was er verlangt, dachte ich. Ich habe mich getäuscht. Was der Krieg ist, kann man nur erahnen. Wir können uns jede Grausamkeit, jede Gewalttat vorstellen. Die Verlockung der Gewalt kommt aus der Vorstellungskraft. Der Krieg ist für die Menschen eine Versuchung, solange sie sich ihn nur vorstellen. Aber in dem Augenblick, wo er über sie hereinbricht, verändert sich alles. Angreifer und Verteidiger, Täter und Opfer werden in wenigen Tagen zu anderen Menschen. Wer gewalttätig ist, bestimmt zwar, was alle anderen tun müssen. Aber auch der Angreifer kann schnell Opfer der eigenen Strategie werden, wenn er die Kampfkraft des Gegners unterschätzt. Nun ist er derjenige, der zum Gehetzten wird. Und er muss entscheiden, ob er die Waffen streckt oder in den Untergang geht. Das ist die Situation, die sich uns in der Ukraine gerade zeigt. Putin nahm offenbar an, dass sich seiner Invasion niemand widersetzen würde. Es kam anders. Und nun hat er keine andere Wahl mehr, als zu siegen, wenn er an der Macht bleiben will. Aus dieser Schwäche aber wachsen die unermesslichen Greuel des Krieges.
Als wir vor diesem Gespräch telefoniert haben, hatte ich den Eindruck, dass Sie von der Diskussion über den Krieg in der Ukraine befremdet sind. Was stört Sie?
Ich habe mich gewundert, wie leichtfertig ausgerechnet in Deutschland über den Krieg gesprochen wird. Gestern noch wurde der Krieg verdammt und der Pazifismus beschworen, und heute schon ist von tapferen Helden, ruhmreichen Abwehrschlachten und vom nationalen Stolz der Verteidiger die Rede. Vor Wochen noch wären Bekenntnisse dieser Art mit Verachtung gestraft worden. Ich frage mich jedoch, ob die Feldherren, die im Lehnstuhl sitzen und kluge Ratschläge erteilen, eigentlich wissen, was eine Flugverbotszone ist und wie man sie sichert, was man sich unter einem Häuserkampf in einer zerstörten Stadt vorstellen muss und was die Entfachung der Leidenschaften bewirkt. Es ist gewiss kein Zufall, dass umsichtige Urteile über den Krieg vor allem von pensionierten Bundeswehrgenerälen zu hören sind, die wissen, was der Krieg ist. Russland ist durch die Sanktionen zwar geschwächt, ist militärisch aber autark, weil es Rohstoffe und Waffen im Überfluss hat, seine Armee also versorgen kann. Der Krieg wird mit unverminderter Härte weitergehen, wenn sich kein Moderator findet, der ihm Einhalt gebietet. Wenn Putin das Schlachtfeld nicht das Gesicht wahrend verlassen kann, wird es keinen Frieden geben.
Sie betonen die russische Autarkie, was das militärische Beschaffungswesen anbelangt. Gleichzeitig stellt man fest, dass sich das russische Militär auch blamiert hat. Bisher hat man angenommen, dass das Land zwar wirtschaftlich schwach sei, aber immerhin eine starke Armee habe. Jetzt stellt man fest, dass Russland mit der Ukraine überfordert ist. Die Vorstellung, dass es auch noch Polen oder das Baltikum angreifen könnte, wie befürchtet wurde, wirkt nun eher unwahrscheinlich. Was Russland allerdings bei allen Schwächen hat: die Atombombe.
Die martialischen Inszenierungen täuschen darüber hinweg, dass die russische Armee noch nie war, als was sie sich ausgab. Russlands Armee ist ein Gefängnis, in dem Rekruten tyrannisiert, gedemütigt und gebrochen werden. In ihr dienen keine Staatsbürger in Uniform. Wer es sich finanziell leisten kann, kauft sich vom Wehrdienst frei, am Ende sind es die ärmsten Schichten der Bevölkerung, die ihre Söhne zu den Soldaten schicken müssen. Wofür sollen sie kämpfen, wenn nicht für sich selbst? Die Soldaten der russischen Armee werden mangelhaft versorgt, leiden Hunger und frieren, sie werden von ihren Offizieren tyrannisiert, schlecht geführt und wie Kanonenfutter behandelt. Gegen motivierte Verteidiger können sich Einheiten demoralisierter Soldaten kaum behaupten. Im Grunde hat die russische Armee aus den Fehlern der Vergangenheit nichts gelernt. Immer noch operiert sie nach dem Grundsatz, dass der rücksichtslose Einsatz von Menschen und Material am Ende zum Erfolg führen wird, selbst wenn ganze Städte vom Erdboden verschwinden.
Dass die jungen Soldaten nur Kanonenfutter seien, liest man jetzt viel. Aber stimmt es auch noch? Würde die russische Gesellschaft auch heute noch Zehntausende, Hunderttausende tote Soldaten akzeptieren? Oder ist eine Sensibilität gewachsen, die wir im Westen vielleicht unterschätzen und die innenpolitisch in Russland noch eine Rolle spielen könnte?
Wenigstens in den grossen Städten, in Moskau und Sankt Petersburg, ist die Sensibilität gewachsen. Aber es sind ja nicht die Kinder der grossstädtischen Intelligenzia, die in dieser Armee dienen. Über allem liegt der schwere Schatten des Fatalismus, der das Leben in Russland immer schon geprägt hat. Viele Menschen fügen sich einfach in ihr Schicksal, weil man die Erfahrung gemacht hat, dass gegen die Allmacht des Staates nichts auszurichten ist. Der Staat ist wie schlechtes Wetter oder lästige Fliegen. Es wäre besser, keinen zu haben. Aber was kann man schon tun? In den letzten beiden Jahrzehnten lebten viele Russen besser als je zuvor, Putin erkaufte sich Zustimmung durch bescheidenen Wohlstand und die Sicherung des inneren Friedens. Wer sich nicht offen gegen das Regime stellte, wurde in Ruhe gelassen. Nun aber meldet sich der russische Staat zurück, und er zeigt sich von seiner unangenehmsten Seite.
Es ist auffällig, dass die russischen Kriege – etwa in Tschetschenien oder Georgien – für die russische Opposition bisher kaum eine Rolle gespielt haben. Sie glauben, dass sich daran auch nichts ändern wird?
Es gibt in Russland keine bürgerliche Gesellschaft, keine Institutionen, die sich gegen die Staatsgewalt behaupten könnten. Putin wird selbst dann an der Macht bleiben können, wenn es zu ökonomischen Engpässen kommen sollte. Und dazu wird es unweigerlich kommen, schon jetzt leeren sich die Auslagen in den Geschäften. Aber die Sanktionen führen nicht dazu, dass Menschen sich auflehnen. Viele Russen, die noch über Vermögen verfügen, setzen sich nach Armenien oder Georgien ab, um ihr Geld in Sicherheit zu bringen. Sie begeben sich eben nicht in die Opposition, sondern suchen nach Auswegen, entziehen sich den Zumutungen, wie sie es stets getan haben. Seit Kriegsausbruch haben mehr als 150 000 Russen ihre Heimat verlassen, zumeist gebildete und intelligente Menschen, die nicht mehr ertragen, was in ihrem Land geschieht. Dieser Exodus ist nicht an sein Ende gekommen. Je länger dieser Krieg dauern wird, desto grösser ist die Wahrscheinlichkeit, dass es Putin gelingen wird, die Schuld für all das Elend dem Westen zuzuschreiben. Man mag das für Propaganda halten. Aber wir sollten auch nicht vergessen, dass diese Darstellung von vielen Russen für glaubhaft gehalten wird. Wir haben uns in der Vergangenheit stets an den jungen Leuten aus den Bildungsschichten Moskaus und Petersburgs orientiert. Aber sie sind nicht Russland.
Der russische Schriftsteller Michail Schischkin hat in der NZZ einen Text über die russische Armee geschrieben und sie als eine «Schule der Sklaven» beschrieben, die mit ihren Gewaltritualen die jungen Männer verroht und sie gleichzeitig zivilisiert. So würden manche zum ersten Mal regelmässig die Zähne putzen. Welche Rolle spielt die Armee in der russischen Gesellschaft?
Die russische Armee war schon immer ein Instrument der Disziplinierung, eine totale Institution, in der Leibeigene gefangen gehalten wurden. Damit sollte im Jahr 1874 Schluss sein, als Zar Alexander II. die allgemeine Wehrpflicht in Russland einführte. Die Reformer träumten davon, Bauern, die soeben von der Leibeigenschaft befreit worden waren, in Staatsbürger zu verwandeln. Die Armee sollte das Vehikel für diese Transformation sein, der Staat Schöpfer neuer Menschen. Zwar bekamen die Rekruten ein Paar Stiefel, lernten lesen und schreiben und kehrten nach ihrem Wehrdienst in ihre Dörfer zurück. Aber sie blieben auch in der Armee Bauern, die von adligen Offizieren gedemütigt wurden. Die zaristische Armee war eine Institution kultureller Apartheid, in der Bauern und Herren voneinander streng getrennt waren. Von einer Nation in Waffen konnte überhaupt keine Rede sein.
Wie sah dieses System genau aus?
Die Soldaten waren den Schikanen der Offiziere ausgeliefert, mussten sich von ihnen duzen lassen, vor ihnen die Mützen abnehmen und sie mit «Euer Hochwohlgeboren» ansprechen. Bei den geringsten Anlässen kamen Körperstrafen zur Anwendung. Die Autokratie war ein Erziehungsstaat. Aber von ihrem Anspruch, Bauern in neue Menschen zu verwandeln, blieb nur die Disziplinierung durch Gewalt. Auch die Bolschewiki folgten diesem Konzept der Staatsbildung von oben. Und auch sie schufen eine Armee, in der Untertanen, aber keine Bürger dienten. Menschen, die solcher Behandlung ausgesetzt sind, geraten ausser sich, sobald sich ihnen eine Gelegenheit bietet, andere Menschen genau so zu behandeln, wie sie selbst behandelt wurden. Die Gewaltexzesse der Roten Armee während des Zweiten Weltkrieges waren auch ein Resultat dieser Zurichtung. Wenn man den Nachrichten glauben darf, die sich über den Krieg in der Ukraine verbreiten, scheint sich das nun zu wiederholen.
Man geht davon aus, dass die russischen Soldaten in der Ukraine gar nicht wussten, was sie da erwarten würde. Was passiert in einer solchen Situation: Richtet sich die Aggression gegen die Vorgesetzten, die die Soldaten verkauft haben; oder ist die Subordination so stark, dass sich die Gewalt umso stärker gegen den Gegner richtet?
Wir wissen darüber eigentlich nicht viel. Aber es fällt natürlich auf, dass bereits mehrere Generäle der russischen Armee, die sich an der Frontlinie aufgehalten hatten, gefallen sind. Vieles deutet darauf hin, dass diese Generäle nach vorn geschickt wurden, um die erodierende Disziplin ihrer Einheiten zu stärken, und deshalb zur Zielscheibe von Scharfschützen wurden. Offenbar ist die Kampfmoral der russischen Soldaten erschüttert. Denn die Soldaten werden nicht versorgt, sie übernachten im Freien, und es fehlt ihnen an Benzin für ihre Panzer. Manche haben ihre Fahrzeuge verlassen und sind einfach weggelaufen. Andere plündern und rauben, nehmen sich in den Dörfern, was ihnen die eigene Armee verwehrt. Regimenter aber, deren Soldaten marodierend durch die Landschaft ziehen, lassen sich nur noch durch den Schrecken zusammenhalten, den die Offiziere verbreiten.
Die Ukrainer und die Russen sind geografisch und kulturell eng verbunden. Sind die Skrupel zur Gewaltanwendung in einer solchen Konstellation grösser? Oder spielt die Nähe bei der Verrohung im Krieg bald keine Rolle mehr?
Zu Beginn eines Krieges ist es von entscheidender Bedeutung für die Motivation der Soldaten, einen gerechten Krieg gegen einen bösen Feind zu führen. Genau deshalb hat man den Soldaten auch nicht gesagt, dass sie in den Krieg gegen die Ukraine ziehen würden, aus Furcht, sie hätten den Marschbefehl verweigern können. Die meisten russischen Soldaten glaubten, sie seien im Manöver, und waren überrascht, sich in einem Krieg wiederzufinden. Die Ukraine ist für die russischen Soldaten kein fremdes Land, auch dort leben Menschen, die die gleiche Sprache sprechen und leben wie sie selbst. Warum sollten sie sie bekämpfen und töten? Nur ändert der Krieg alles. Als sich der Widerstand der Ukrainer versteifte, als die ersten Panzer ausbrannten und Leichen russischer Soldaten auf den Strassen lagen, verwandelte sich der leichtfertig ins Werk gesetzte Angriff in einen blutigen Kampf, in dem es nur noch darum geht, den anderen zu überleben. Es kommt überhaupt nicht mehr darauf an, wer die anderen wirklich sind. Man will sie nur überleben. Wahrscheinlich sprengen Hass und Wut gerade deshalb alle Grenzen, weil Russen und Ukrainer über alles Trennende hinweg viel miteinander verbindet.
Sie sagen: Je monströser die Gewalt, die Putin ausübt, desto grösser ist die Chance für ihn, doch noch ohne Macht- und Prestigeverlust aus der Katastrophe herauszukommen. Es wird nun auch oft geschrieben, Putin könne diesen Krieg nicht verlieren, sonst sei es um ihn als Präsidenten geschehen. Ist die Brutalisierung für ihn alternativlos, oder sind auch Szenarien denkbar, die für Putin funktionieren, ohne dass er mit einer Trophäe aus dem Krieg kommt?
Putin braucht einen Sieg, um diesen Krieg ohne Prestige- und Machtverlust beenden zu können. Sollte er keine weiteren militärischen Erfolge mehr erzielen, wird er sich wahrscheinlich mit dem Status quo und der Neutralität der Ukraine zufriedengeben. In Russland könnte er diese Blamage immer noch als Sieg verkaufen. Nun spricht aber manches dafür, dass Putin seinen Plan, wenigstens den Osten und den Süden der Ukraine zu besetzen, noch nicht aufgegeben hat. Zurzeit vollzieht sich eine Umgruppierung der russischen Truppen. Sollte auch der zweite Versuch scheitern, die ukrainische Armee auszuschalten, dann wäre Putins Verhandlungsposition deutlich schlechter. Es ist wahrscheinlich, dass es dann zu einem verlustreichen Zermürbungskrieg kommt, durch den die Ukraine auf Dauer zugrunde gehen und Putin sein Ziel doch noch erreichen könnte, wenngleich unter grossen materiellen und menschlichen Verlusten. Die Brutalisierung des Krieges kommt aus der Schwäche, nicht aus der Stärke, und sie wird an Dynamik gewinnen, je erfolgloser die Versuche der Angreifer und der Verteidiger sind, den Krieg für sich zu entscheiden.
Das Vertrauen in seine Armee dürfte bei Putin in den letzten Wochen nicht gewachsen sein. Könnte dies dazu führen, dass er ernsthafte Verhandlungen einer zweifelhaften zweiten Offensive vorzieht, die ihn möglicherweise nur weiter in Bedrängnis bringt?
Ich habe Zweifel, dass Putin Verhandlungen führt, ohne seine militärischen Optionen ausgereizt zu haben. Seine Unterhändler spielen auf Zeit, Putin selbst macht keine Anstalten, auf die Angebote Selenskis einzugehen. Nicht einmal Roman Abramowitsch, dem treuesten aller Oligarchen, ist es gelungen, zwischen Putin und Selenski Einvernehmen herzustellen. Putin ist ein Mann, dem die Hand nicht zittert, der weiss, dass derjenige, der zum nächsten Schlag ausholt, die Initiative behält und bestimmt, was die anderen tun müssen. Manches hängt aber natürlich auch davon ab, welche Informationen ihm von seinen Generälen zugespielt werden. Bisher haben sie ihn offenbar angelogen und ihn über das Ausmass der militärischen Katastrophe im Unklaren gelassen.
Das gehört zu den Paradoxa der Herrschaft. Es scheint, dass Putin das Opfer seiner eigenen Desinformation geworden ist. Er selbst hatte wohl geglaubt, der Feldzug sei ein Spaziergang und die russische Armee werde zumindest im Osten der Ukraine willkommen geheissen werden.
Das ist das Dilemma, in dem sich alle autoritären Herrscher befinden. Sie hören nur noch, was sie hören wollen. Der Korridor, der zum Machthaber führt, wird enger, nur wenige Vertraute erreichen sein Ohr noch. Und sie sagen ihm, was er hören will, weil sie ihren Einfluss auf den Herrscher nicht verlieren wollen. Denn Zweifel wird bestraft, der Kritiker wird zum Dissidenten, der vom Hof entfernt werden muss. Zu Anfang seiner Herrschaft umgab sich Putin noch mit Beratern, die ihm Ratschläge erteilten. Nun ist er nur noch von servilen Ja-Sagern umgeben. Der Herrscher glaubt, seine Macht sei grenzenlos, weil alle tun, was er will. Aber er begreift nicht, dass der Realitätsverlust der Preis ist, den er für seine Allmacht bezahlen muss.
Die Folge davon könnte sein, dass Putin immer unberechenbarer wird: zunehmende Abschottung, zunehmende Repression gegen innen, dazu Angst und Paranoia, weil er um sein Leben fürchten muss.
Das kann, muss aber nicht so sein. Stalin war in einer ähnlichen Situation, als die Wehrmacht im Juni 1941 die Sowjetunion überfiel. Er schickte seine Armeen in aussichtslose Schlachten, er liess Generäle erschiessen, traf katastrophale Fehlentscheidungen. Erst im Jahr 1942 kam ihm zu Bewusstsein, dass die Sowjetunion unterzugehen drohte, dass Terror allein kein Mittel ist, um im Krieg siegreich zu sein. Stalin überliess die militärische Planung nun seinen Generälen, er öffnete sich für Ratschläge, rehabilitierte die orthodoxe Kirche, appellierte an patriotische Gefühle. Stalin lernte aus Fehlern, wenngleich er nach dem Ende des Krieges zu alter Form zurückfand. Manche Tyrannen sind lernfähig. Manche richten sich dauerhaft in der Paranoia ein. Wir wissen nicht, was Putin tun wird, weil zur russischen Herrschaft auch gehört, dass sie sich hinter Mauern verschanzt, sich mit Geheimnissen umgibt. Die Macht will unergründlich und unsichtbar sein. So hilft sie sich über ihre Schwäche hinweg. Dieses Spiel mit den Geheimnissen beherrschen die russischen Machthaber bis zur Perfektion. Nur hat Putin fast alle seine Karten ausgespielt. Womit könnte er jetzt noch drohen? Vor seiner Armee hat niemand mehr Angst. Allenfalls vor seiner Unberechenbarkeit, von der man nicht weiss, wohin sie führen wird.
Hat sich Putin in den vergangenen Jahrzehnten politisch, vielleicht auch charakterlich verändert? Oder ist er auch jetzt der, der er immer war, und war sein Programm schon immer so ausgelegt?
Auch zu Anfang seiner Herrschaft war Putin ein Apologet des Imperiums, aber er glaubte offenbar, seine Ziele im Einvernehmen mit dem europäischen Westen zu erreichen. Europa hat sich inzwischen vom Vorbild in ein Feindbild verwandelt, dem alle Übel zugerechnet werden. Von der einstigen Bewunderung für Europa und seine Kultur ist wenig geblieben. Aber auch Putin selbst hat sich verändert, so wie sich alle Machthaber verändern, wenn sie sich in ihrer scheinbaren Allmacht behaglich einrichten. Putin hat nach und nach den Blick für die Realität verloren, er lässt sich von seinen eigenen Inszenierungen blenden. Das Misstrauen, die Paranoia, die Suche nach inneren Feinden – das alles scheint mir aber auch ein Resultat seiner Sozialisation im Geheimdienst zu sein. Der Geheimdienst ist eine verschworene Gemeinschaft von Menschen, die ein autoritäres Weltbild teilen, sich von den Regeln des Ehrenkodexes leiten lassen, loyal bis zur Selbstaufgabe sind. Putin stand schon immer im Dienst dieser Organisation und ihrer Kultur. Verändert hat sich allenfalls seine Strategie, nicht sein Verhältnis zur Welt.
Sie haben Putin mit Stalin verglichen. Dieser hatte sich 1941 grob verschätzt, weil er nicht glauben konnte, dass Hitler es wagen würde, einen Zweifrontenkrieg zu eröffnen. In jener Zeit gab es vielleicht ein kurzes Zeitfenster, in dem eine Verschwörung gegen ihn hätte funktionieren können. Auch Putin hat sich mit seinem Angriff verschätzt. Ist er in einer ähnlichen Situation wie Stalin damals?
Stalin war zu keiner Zeit wirklich in Gefahr. Chruschtschow schrieb in seinen Memoiren, dass Stalin sich am 22. Juni 1941, am Tag des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion, in seinem Landhaus ausserhalb von Moskau verschanzt habe. Als er und andere Mitglieder des Politbüros zu ihm hinausgefahren seien, habe der Diktator sie misstrauisch angesehen. Stalin habe offenbar befürchtet, dass sie gekommen seien, um ihn zu verhaften. Nun wissen wir inzwischen, dass Chruschtschows Geschichte frei erfunden ist. Stalin sass auch am ersten Tag und an all den Tagen, die noch folgen sollten, in seinem Büro und koordinierte die Massnahmen der Regierung. Die Gefolgsleute scharten sich in der Stunde der grössten Gefahr um ihren Anführer, weil niemand das Risiko eingehen wollte, das Regime in Gefahr zu bringen. Mit anderen Worten: Krisen arbeiten für den Herrscher, nicht gegen ihn. So ist es wahrscheinlich auch jetzt. Die Gefolgsleute Putins sind auf den Herrscher angewiesen, eingeschworen, weil sie ihm alles verdanken. Auf Recht und Gesetz, auf Tradition oder den Volkswillen können sie, die sich selbst bereichert und Verbrechen begangen haben, nicht berufen. Sie müssen stets damit rechnen, selbst in den Abgrund gezogen zu werden. In der Nähe des Herrschers ist es allemal sicherer für sie als auf freiem Feld.
Gibt es Anzeichen, dass Putin in seinem inneren Zirkel schon Säuberungsaktionen durchgeführt hat?
Offenbar hat er Geheimdienstgeneräle aus dem inneren Zirkel verstossen und unter Hausarrest gestellt. Aber im Grunde wissen wir nicht, was in der russischen Führung wirklich geschieht. Putin lässt sich nicht in die Karten schauen, das ist sein Erfolgsrezept.
Sie haben 2017 in einem Interview mit «NZZ Geschichte» gesagt, man solle sich gut überlegen, ob es eine gute Idee sei, Putin zu stürzen. Sehen Sie das immer noch so?
Man glaubt in den Ländern des Westens, dass es reiche, Despoten von der Macht zu vertreiben, um der liberalen Demokratie den Weg zu bahnen. Eine Illusion, denn demokratische Ordnungen beruhen auf Voraussetzungen, die der autoritäre Staat nicht einfach selbst erzeugen kann. Das hat schon in Syrien nicht funktioniert, und schon gar nicht in Ägypten oder in Libyen. Und in Russland wäre es wohl nicht anders. Nach Stalins Tod im Jahr 1953 gelang es seinen Nachfolgern, dem Terror ein Ende zu setzen und mit Nikita Chruschtschow einen Mann an die Spitze des Staates zu setzen, der mit der Gewalt der Vergangenheit brechen, kein neuer Stalin sein wollte. Ein Glücksfall, wie man im Nachhinein sagen muss. Wird es auch jetzt zu einem solchen Wechsel in der Herrschaftselite kommen? Wir wissen es nicht, denn es gibt überhaupt keine Institutionen mehr, die über Putins Nachfolge befinden könnten. In der Sowjetunion gab es geregelte Verfahren, ein Zentralkomitee und ein Politbüro, die darüber entschieden, wer das Land regieren sollte, und die den Führer auch wieder aus dem Amt befördern konnten. Aber wer wird Putin um sein Amt bringen, wer wird ihn ersetzen, und wer entscheidet darüber? Das alles ist unklar. Freie Wahlen würden allenfalls Kommunisten oder Faschisten an die Macht bringen, nicht die Liberalen. Man muss leider immer damit rechnen, dass es noch schlimmer kommen könnte, als es schon ist. Eine realistische Aussenpolitik sollte dieses Szenario nicht aus dem Blick verlieren.
Interessanterweise erfährt Stalin in der Regierungszeit von Putin eine teilweise Rehabilitierung. Umfragen belegen, dass er von den Russen mittlerweile wieder viel positiver gesehen wird. Es gibt sogar eine, in der er als zweitbeliebtester Politiker in Russland nach Putin fungiert. Wie erklären Sie sich das?
Das Unwissen über die Stalin-Zeit ist in Russland allgegenwärtig, es gibt keine Aufklärung über die Diktatur, wie wir sie kennen. Die Stalin-Zeit ist keine historische, sondern eine mythische Zeit. Man erinnert sich nicht an den Terror und den Horror, sondern an die Grösse und den Glanz eines untergegangenen Imperiums, an den Sieg im Grossen Vaterländischen Krieg, dessen Symbol Stalin ist. Nicht der Despot, der Terrorist und Gewalttäter wird besungen, sondern der Schöpfer und Bewahrer eines mächtigen Reiches. Vom Kommunismus ist am Ende nichts geblieben als die Erinnerung an das verlorengegangene Imperium. Für diese Grösse aber steht nicht nur Stalin, sondern auch Alexander III., Pjotr Stolypin oder die weissen Generäle des Bürgerkrieges. Sie alle repräsentieren das «eine und unteilbare Russland». Putin bedient sich aus diesem Heldenarsenal nach Belieben, lässt Loblieder auf Alexander III., Stolypin und Stalin anstimmen. Mit dem Zerfall der Sowjetunion ist der Kommunismus als verbindende Ideologie verschwunden. Was blieb, ist das Imperium.
Die Sehnsucht nach dem Imperium spielt auch in diesem Krieg eine grosse Rolle: Putin versucht, verlorengegangenes Land zurückzuerobern. Ist das Problem Russlands letztlich, dass es seine Geschichte nicht kritisch aufarbeitet? Dass das Land ständig auf der Suche nach der verlorenen Zeit und dem verlorenen Imperium ist?
Natürlich muss sich Russland von der Idee des Imperiums verabschieden, so wie sich auch die Ukrainer von diesem Erbe, von dem sie nicht loszukommen scheinen, endlich emanzipieren müssen. Frieden wird es nur geben, wenn Menschen lernen, zu vergessen, wenn sie aufhören, sich gegenseitig ihre Helden und nationalen Mythen vorzuhalten. Auch wir haben uns von Hermann dem Cherusker und dem Bismarck-Kult vergangener Zeiten verabschiedet und das Ende dieser bedrückenden Einengung des Denkens als Befreiung empfunden. Erst wenn in Russland niemand mehr die Kiewer Rus und den Grossen Vaterländischen Krieg braucht, um Russe sein zu können, und wenn in der Ukraine der Holodomor nicht mehr unablässig als «russische Tat» beschworen werden muss, kann es einen Frieden geben, der den Tag überdauert. Die Geschichte ist der Grund, auf dem der Nationalismus wächst. Man muss vergessen lernen, die Geschichte ruhen lassen.
Die Ukraine ist doch nach wie vor in einem nationalen Selbstfindungsprozess, und da ist es normal, dass sich die Nation zu definieren und abzugrenzen versucht. Was jetzt passiert, wird einen zentralen Platz in der ukrainischen Geschichte einnehmen. Die Folge des Krieges wird nicht weniger, sondern mehr Geschichte sein, ob man das gut oder schlecht findet. Was Putin macht, ist paradoxerweise ukrainisches Nation-Building. Er bombardiert gerade die Nation zusammen. In Odessa und Charkiw mögen viele russischsprachige Bürger mit Russland sympathisiert haben. Diese Sympathien sind wohl verflogen.
Das ist zweifellos so. Die Bewohner der Ukraine verstehen sich als Ukrainer, mehr als je zuvor. Das jedenfalls hat Putins Krieg zustande gebracht. Aber wir wissen natürlich nicht, was die Ukraine nach dem Krieg sein wird. Wird sie demokratisch oder autoritär regiert werden? Wie wird sich der Krieg auf die politische Mentalität auswirken, auf den Umgang mit abweichenden Meinungen, mit Minderheiten? Ausser Frage steht, dass die Ukraine nicht mehr sein wird, was sie einmal gewesen ist, und ausser Frage steht auch, dass ihre Regierung versuchen wird, sie in eine Sicherheitsordnung zu integrieren, die ihre territoriale Integrität schützt. So wie Polen und die baltischen Republiken der EU zu dem einzigen Zweck beigetreten sind, ihre nationale Unabhängigkeit zu bewahren. Diese Länder waren stets Opfer aggressiver Nachbarn. Jetzt streben sie um jeden Preis danach, ihre Souveränität zu sichern. Die Ukraine wird ihnen darin folgen wollen. Am Ende wird der Erfolg dieser Strategie davon abhängen, ob Russland sich mit ihr abfindet.
Im Westen beschwören Politiker nun den Krieg dahingehend, dass die Ukraine die «Grundwerte der freien Welt» verteidige. Kämpfen die Ukrainer nicht vielmehr für ihr eigenes Land und ihre eigene Freiheit?
Richtig. Zunächst einmal kämpfen die Ukrainer dafür, nicht besetzt und unterworfen zu werden. Sie wollen den Aggressor zurückdrängen, ganz gleich, welcher politischen Überzeugung die Verteidiger sich selbst zuordnen. Dieser Krieg ist keine Auseinandersetzung zwischen liberaler Demokratie und Autokratie, denn die meisten Ukrainer sind in ihren politischen Auffassungen viel konservativer, als man hierzulande glauben möchte. Zweifellos konnten Ukrainer seit 2014 von ihren Freiheitsrechten einen grösseren und umfassenderen Gebrauch machen als die Bürger Russlands. Aber solche Freiheiten besagen nichts darüber, wie Menschen von solchen Freiheiten Gebrauch machen. Gelänge es der Ukraine eines Tages, in die EU aufgenommen zu werden – die EU würde konservativer, und ihr Gewicht würde sich in den Osten Europas verschieben.
Der militärische Heroismus der Ukrainer wird nun selbst in linken Kreisen in Europa beklatscht. Die ukrainische Nationalflagge wird in der Gegend herumgetragen. Pazifismus-Sympathisanten haben über Nacht ihren Pazifismus abgelegt. Der Westen schien in den letzten Jahren militärisches Heldentum abzulehnen, jetzt feiert er es. Wie erklären Sie sich das?
Der Pazifismus hatte in Deutschland aus verständlichen Gründen eine grössere Anhängerschaft als in den USA oder in Grossbritannien. Die Bundeswehr ist in den letzten Jahren faktisch entwaffnet worden, Deutschland überliess seine Aussenpolitik den USA. Für diese Haltung gab es gute Gründe, die nicht dadurch schon entwertet sind, dass in der Ukraine ein Krieg ausgebrochen ist. Ich empfinde diese Kriegs- und Gewaltrhetorik, die sich in den letzten Wochen in Deutschland ausgebreitet hat, als zutiefst verstörend. Auch ich glaube, dass es sinnvoll ist, der Bundeswehr jene Ausstattung zukommen zu lassen, die sie verdient und die sie für die Verteidigung des Landes benötigt. Was mich befremdet, ist die Neigung der Deutschen, sich *******n Stimmungen auszuliefern, jedes Mass zu verlieren. Gestern noch wurde der Klimawandel bekämpft, und heute werden wieder die Helden vergangener Zeiten besungen. In Wahrheit produziert der Krieg keine Helden, nur Verlierer. Wer davon nichts weiss, sollte sich mit Ratschlägen zurückhalten.
Viele Regierungen tun nun so, als sei dieser Krieg vom Himmel gefallen. War die westliche Diplomatie über Jahre insgesamt zu gnädig mit Putin?
Wahr ist, dass Russland in den letzten zwanzig Jahren zwar «kleine» Kriege geführt hat: in Transnistrien, Abchasien, Südossetien, in Georgien und im Osten der Ukraine. Der «kleine» Krieg war Putins Modell, Unruhe zu stiften und die Nachbarstaaten auf eine Weise zu destabilisieren, dass die Nato das Interesse an ihnen verlor. Und nun hat sich Putin von diesem Modell verabschiedet, zu seinem eigenen Nachteil. Die Diplomatie hat Putin falsch eingeschätzt, weil sie annahm, dass er von seinen bewährten Konzepten nicht abrücken würde. Nachher ist man immer schlauer als vorher.
Hier sind wir wieder am Anfang und bei der Frage: Warum jetzt? Was hat Putin dazu geführt, gerade jetzt die Ukraine anzugreifen?
Putin wollte sein Werk, die Wiederherstellung des Imperiums, noch zu Lebzeiten vollenden, und er nahm ganz zu Recht an, dass die Ukraine für immer verlorengehen könnte. Denn die Ukraine hat sich seit 2014 nach und nach aus dem Orbit des Imperiums hinausbewegt. Selbst in den von Separatisten besetzten Gebieten im Osten der Ukraine schwanden die einst grossen Sympathien für die russischen Eroberer. Die Statthalter, die Putin im Donbass eingesetzt hat, sind korrupt, die wirtschaftlichen Verhältnisse prekär. Auch auf der Krim ist die Euphorie vergangener Tage verflogen. Putin wollte nicht mehr warten. Aber er versteht nicht, dass der richtige Zeitpunkt längst verstrichen, dass er zu spät gekommen ist.
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Ich fand das Interview ganz interessant und hab es deswegen hier auch mal reingestellt. Ist natürlich sehr lang.
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