Bilanz einer Kampagne - Rammstein: Wie der Sex- zum Medienskandal wurde
Die Rammstein-Tournee ist zu Ende, die Stadien waren ausverkauft, der Protest blieb wirkungslos. Aus der Presse-Kampagne wegen Missbrauchsvorwürfen gegen Sänger Till Lindemann ist eine juristische Schlammschacht geworden, in der einige Medien kein gutes Bild abgeben.
von JENS PETER PAUL am 13. August 2023
Die Tour ging planmässig mit gigantischem Erfolg zu Ende und alle sechs Musiker sind unverändert auf freiem Fuß. Insgesamt kamen keine 1.000 Gegendemonstranten zusammen; diese ohnehin nur in Deutschland und dort an einigen Orten, jeweils nur zum ersten Auftritt. Das Scheitern der Verleumdungskampagne gegen die Rockband Rammstein und ihren Sänger und Liedtexter Till Lindemann hat ihre Urheber zwischenzeitlich jedes Maß verlieren lassen und hier und da ein wenig auch den Verstand. Das Magazin Stern hielt es für eine gute Idee, Besucher der Rammstein-Konzerte pauschal zu AfD-Wählern zu erklären, weil sie es wagten, Boykottaufrufe zu ignorieren. Das kam weit über die Fanbase hinaus nicht gut an.
Die Chefin des berühmten Berliner Kit-Kat-Clubs sah sich hasserfüllten Boykottaufrufen ausgesetzt, nachdem die Türsteher Till Lindemann am Sonntag nach dem zweiten der drei Berliner Gigs Einlass gewährt hatten, anstatt ihm Hausverbot zu erteilen oder wenigstens seine Tasche zu durchsuchen, weil sich darin schließlich – so die implizite Unterstellung – K.o.-Tropfen befinden könnten.
Im Gespräch mit Cicero wirkte Kit Kat-Inhaberin Kirsten Krüger ratlos und auch traurig, dass ihr die eigene Szene, sogar eigene DJanes innerhalb von Stunden öffentlich in den Rücken gefallen waren, ohne wenigstens zuvor mit ihr zu sprechen, zumal es sich, wie sie sagt, um eine Fremdveranstaltung handelte und sie an jenem Abend gar nicht im Club war. Lindemann erscheine zwei- oder dreimal im Jahr, manchmal auch mit Tochter, sagte sie, und sei noch nie unangenehm aufgefallen oder gar als übergriffig.
Auch der Anwalt des Magazins Der Spiegel meldete sich gegenüber Cicero zu Wort, um seine Sicht der Dinge darzutun. Stoff genug für eine Bilanz elf Wochen nach den ersten Vorwürfen gegen den Frontmann von Rammstein, ohne jede Substanz, wie sich bald zeigen sollte, erhoben von einer jungen Frau nach einem Auftritt der Band in Litauen am 22. Mai, dem Auftakt der Tournee, die dann 30mal ein ganzes Stadion füllen sollte.
Umsatzschub durch Empörungswelle
Umsätze, Chart-Plazierungen und Besucherzahlen der Band gingen nach der ersten Empörungswelle durch die Decke. Die linksgrünen Qualitätsmedien schwanken daher zwischen Resignation und Wut und suchen kleinlaut nach Erklärungen für ihre Machtlosigkeit.
Staatlich finanzierte Trabanten der Bundesregierung wie die linksradikale Amadeu-Antonio-Stiftung AAS suchen seit dem 16. Juni öffentlich händeringend nach Opfern und Zeugen, gerne auch anonym, die sich bitte jetzt aber ganz schnell an sie wenden sollten für den bitter notwendigen Turnaround der Beweislage und damit der öffentlichen Wahrnehmung. Doch dieser blieb bis zuletzt aus.
Eine öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalt blies in Zusammenarbeit mit einer süddeutschen Zeitung uralte, promilleinduzierte Begebenheiten auf zum spielentscheidenden Sexualverbrechen, aber das brachte ebenfalls nichts außer Frust für die Investigativteams in Hamburg und München und soeben noch dazu eine gerichtliche Zurechtweisung.
ORF: „Aua, bitte hör auf!“
Pünktlich zu den beiden Konzerten in Wien am 26. und 27. Juli räumte der öffentlich-rechtliche ORF seine Nachrichten für den Rest des Tages und den Folgetag frei für die Meldung, eine Frau werfe Till Lindemann vor, er habe ihr vor vier Jahren, so der ORF, in einem Hotelzimmer den Hintern versohlt:
„Aua, bitte hör auf!“ – das waren die Worte, die Beate H. nach eigenen Angaben zu Lindemann gesagt hatte, um ihn davon abzuhalten, ihr körperliche Schmerzen zuzufügen. Doch der Frontman der Band Rammstein, dem seit Mai dieses Jahres sexuelle Übergriffe vorgeworfen werden, habe nicht aufgehört, erzählte die Betroffene dem ORF, deren Name auf Wunsch von der Redaktion geändert wurde. „Auf einmal habe ich einen enormen Schmerz gespürt.“
Lindemann habe sie mit dem Gesicht nach unten aufs Bett gedrückt, ihren Rock hochgeschoben und sie so stark geschlagen, dass Handabdrücke auf ihrem Gesäß zu sehen gewesen seien – es habe keine Zustimmung ihrerseits gegeben, sogar eine eindeutige verbale Ablehnung, so H. Obwohl „Handys verboten“ gewesen seien, habe eine an diesem Tag ebenfalls anwesende Frau es geschafft, noch im Hotelzimmer Fotos von den Folgen der mutmaßlichen Misshandlung zu machen.
Magistra Romina Kaschnitz-Biegl, Sprecherin der Wiener Staatsanwaltschaft, erfuhr von dieser laut ORF sensationellen Wende durch einen Anruf von Cicero, um sich zwei Stunden später nach Rücksprache in der Behörde mit der von ihr bereits so erwarteten Information zurückzumelden, auch in Wien lägen für die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens keine ausreichenden Informationen vor:
Es fehlen sowohl Angaben zur Zuständigkeit der Staatsanwaltschaft (wann und wo soll sich der Vorfall ereignet haben?) als auch initiale Ermittlungsansätze, zumal das Opfer nach eigenen Angaben anonym bleiben und keine Anzeige erstatten möchte. Sollten weiterführende Informationen oder Beweismittel bekannt werden, wird die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens erneut zu prüfen sein.
„Unbehagen“ vor dem Finale
Zu den drei letzten Shows der Tournee in Brüssel (dreimal ausverkauft, insgesamt 150.000 zahlende Fans) zauberte der Spiegel nach einer weiteren „aufwendigen Recherche“ zuletzt noch eine Frau aus dem Hut, die vor zwölf Jahren als damals 15-Jährige Sex mit Lindemann gehabt zu haben behauptet. Und später nochmal mit 21, beide Male aber nach ihren eigenen Angaben freiwillig, auch wenn sie heute sagt, sie sei „damals viel zu jung gewesen“.
Ergebnis dieses jüngsten Mediencoups, so das Grenzecho: „Unbehagen“ vor dem Tournee-Finale in Brüssel, immerhin, plus vier Tage öffentliche Debatte mit den bekannten Fronten, ob dieses Verhältnis mit einer Jugendlichen nun nicht nur verwerflich, sondern endlich auch strafbar gewesen sein könnte für den Frontmann. Antwort: Nein, Einzelheiten siehe Paragraph 176 StGB.
Hier und da schauen Väter seither noch skeptischer auf ihren weiblichen Nachwuchs im eben geschlechtsreifen Alter, aber notfalls kommen sie in Zukunft halt mit. Steckt am Ende doch eine große rechte Verschwörung hinter dieser ganzen Vergeblichkeit, einer Band möglichst existenzbedrohend an den Karren zu fahren, die sich immer als „links“ verortete?
Spenden für Opfer der Anwälte
Bewiesen ist auch nach einem Vierteljahr nichts, was auch nur entfernt strafrechtliche Bedeutung hätte. Nicht einmal, schaut man genauer hin, ernsthaft behauptet. Hätte es systematische Fälle von Vergiftung und Mißbrauch gegeben, Vergewaltigungen gar, wären sie spätestens jetzt, davon darf man ausgehen, zur Anzeige gebracht oder sogar öffentlich verhandelt worden, auch dank der Bemühungen etwa der Amadeu-Antonio-Stiftung:
„Uns ist wichtig, dass eure Perspektive gehört wird, ihr zu eurem Recht kommt und ihr euch dabei keine Sorgen um die Kosten machen müsst, die zum Beispiel durch juristische Einschüchterungsversuche von Lindemanns Anwälten entstehen könnten.
Wir unterstützen Personen, die sexualisierte Übergriffe durch oder ähnliche missbräuchliche Situationen mit Till Lindemann oder anderen Bandmitgliedern von Rammstein erlebt haben [oder] Zeug*innen geworden sind von den genannten Vorfällen und sich dazu öffentlich oder im Rahmen eines Gerichtsverfahrens geäußert haben oder äußern wollen.“
Dass es „Vorfälle“ gab, unterlag für die Stiftung ausweislich ihrer Wortwahl vom ersten Moment an keinem vernünftigen Zweifel. Es gehe, so die Botschaft, nur noch darum, Opfer und Zeugen endlich aus der Reserve zu locken und ihnen außerdem die Angst vor finanziellen und sozialen Folgen von Aussagen zu nehmen.
Zu diesem Zweck, so die unter anderem von Bundesfrauenministerin Lisa Paus mit hohen Summen an Steuergeld geförderte Einrichtung, habe man innerhalb weniger Tage Spenden in Höhe von insgesamt 826.288 Euro sammeln können, damit sich Frauen gegebenenfalls gegen die Anwälte von Rammstein und Till Lindemann zur Wehr setzen und eventuelle Geldstrafen bezahlen können, was freilich nur nach gerichtlich festgestellten Falschaussagen in Frage kommt. Ob von der AAS bis heute ein einziger Euro für den genannten Zweck verwendet wurde, ist unbekannt.
Beweislage oft zu dürftig
Zur gleichen Zeit drehte und wendete die im Presserecht sehr bewanderte 24. Kammer des Hamburger Landgerichts tagelang das ihr vom Spiegel unter dem Druck der Rammstein-Anwälte nach und nach vorgelegte Material, fragte nach, gestattete Erwiderungen und Erläuterungen, konzentrierte sich auf die Versicherungen angeblicher Opfer und Zeugen an Eides Statt, weil das die überzeugendsten Belege sein sollten – und fand zuletzt im wesentlichen Punkt angeblichen sexuellen Mißbrauchs nichts von Substanz.
Eine Folge: Legte man zwecks Vergleich die neuen Spiegel-Texte neben die ursprünglichen, so sehen die Online-Artikel inzwischen aus, als wären die Motten drangegangen. Löcher, Lücken und schwarze Balken, sogar eine Gegendarstellung von Gitarrist Richard Kruspe. Solche abzuwehren, pflegt das Blatt Himmel und Hölle in Bewegung zu setzen. Es nützte nur diesmal nichts.
Für einen angeblichen Streit zwischen Kruspe und Lindemann um eine Frau nach einem Konzert 2019 in München – auch auf dieser Ebene duellierten sich die Anwälte – fand das Gericht keinerlei Beweise oder wenigstens Indizien. Und immer wenn nach der Löschung inkriminierter Passagen die logischen und zeitlichen Anschlüsse nicht mehr stimmen, müssen Artikel zunächst komplett offline genommen und dann umgeschrieben werden. Das geschah in diesen Wochen mehrfach.
Die Beweislage ist zu dürftig. Und das, obwohl die Anforderungen für eine Verdachtsberichterstattung wie hier ohnehin schon deutlich geringer sind als für „harte“ Tatsachenbehauptungen. Es genügen „hinreichende Anknüpfungspunkte“ an objektive Umstände und Vorgänge und „Glaubhaftmachungen“, um von den Richtern als Fahrkarte für Vorwürfe heftigster Art akzeptiert zu werden.
Behauptung oder Meinung?
Widersprüche sollten nicht schon bei summarischer Prüfung ins Auge fallen und Behauptungen nicht als offensichtlicher Blödsinn daherkommen. Anschuldigungen ins Blaue hinein sind unzulässig, selbst wenn es sich angeblich nur um „Meinungsäußerungen“ handeln soll oder sie nachträglich zu solchen erklärt werden.
Grundsätzlich werden Eidesstattliche Versicherungen in dieser Streitphase sehr wohl als Belege akzeptiert, obwohl auch sie ja lediglich Behauptungen darstellen, nur, dass Lügen darin hart bestraft werden können, was ihnen vor Gericht eine gewisse Überzeugungskraft verleiht. Aber es kommt auch darauf an, was in diesen Versicherungen steht. Und vor allem: was nicht.
Da zählt jedes Komma, jede Auslassung und, wie es neuerdings ständig geschieht, jede Abweichung zwischen dem Wortlaut der Eidesstattlichen Versicherung, von der Zeugin unterschrieben ausdrücklich zur Verwendung vor Gericht und in Kenntnis der potentiellen strafrechtlichen Folgen etwaiger Lügen, und dem Wortlaut im Artikel, also was der Spiegel daraus gemacht hat. Wenn Magazine sich dabei erwischen lassen, wie sie Belege für ihre Anschuldigungen, etwa Zeugenaussagen, hektisch erst nachträglich beizuschaffen versuchen, dann macht das auch auf die Richter keinen überzeugenden Eindruck.
Was vor Gericht verlangt wird
Hilfreich ist stets ein Minimum an Glaubwürdigkeit, Detailtreue und Stringenz der belastenden Darstellungen und Personen. Harte Beweise werden in dieser Phase einer Berichterstattung noch gar nicht verlangt, aber plausibel, nachvollziehbar, schlüssig müssen die Darlegungen schon sein.
Sollte sich – als erfundenes Beispiel – vor Gericht bereits im Verfügungsverfahren herausstellen, dass ein angeblicher Täter zum angeblichen Tatzeitpunkt 500 Kilometer entfernt war und außerdem nachweislich in diesen Wochen ein Gipsbein trug, von dem in den Vorwürfen aber keine Rede ist, dann sieht das schon mal schlecht aus.
Anforderungen an eine Glaubhaftmachung erhöhen sich, wenn die Folgen von öffentlich erhobenen Beschuldigungen für die angeblichen Täter in mehrerlei Hinsicht existenzbedrohend sein können - in finanzieller und in gesellschaftlicher Hinsicht. Und das ist bei MeToo-Artikeln mit namentlicher Nennung so gut wie immer der Fall und für Rammstein, eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts mit gut achtstelligen Jahresumsätzen, sowieso.
K.o. für falsche Behauptungen
An mehreren Mindestanforderungen, so das Landgericht in einer Serie von Entscheidungen gegen den Spiegel sowie weitere Medien, hapert es einstweilen erheblich. Ganze Passagen wurden zwischenzeitlich auf Betreiben der Anwaltskanzleien Lichte (Hamburg, für die Band) und Schertz Bergmann (Berlin, für ihren Sänger Till Lindemann) gecancelt, etwa per Beschluss vom 17. Juli 2023:
„Keine Aussage der Zeuginnen, welche ihre Angaben an Eides statt versichert beziehungsweise gegenüber den Autorinnen [des Artikels] getätigt haben, trägt den Verdacht, dass [Lindemann) Frauen bei Konzerten mit Hilfe von K.o.-Tropfen, Alkohol oder Drogen betäubt hat oder hat betäuben lassen, um ihm zu ermöglichen, sexuelle Handlungen an den Frauen vorzunehmen.“
Das Gericht sagt sinngemäss: Der Spiegel erfüllt an mehreren Stellen nicht einmal Mindestanforderungen an eine hinzunehmende Verdachtsberichterstattung. Er kann seine Texte nicht wenigstens auf die Behauptungen seiner Zeuginnen stützen. Der Spiegel schreibt etwas, das nicht einmal aus deren subjektiven Darstellungen hervorgeht.
Das wiederum heißt nach jetzigem Stand des Verfahrens: Weil den 13 Autoren die Indizienlage selbst zu dünn war, haben sie sich nach Feststellung des Hamburger Landgerichts über die Aussagen ihrer eigenen Kronzeuginnen hinweggesetzt, sie aufgeblasen, künstlich auf eine gewisse Fallhöhe gebracht, damit die Story ein Minimum an Sensationswert erreicht, denn sonst wäre die ganze Mühe umsonst gewesen.
Es locken Ruhm und Preise
Fake-Reporter Claas Relotius (Ex-Kollege Juan Moreno: „Eine Vollkatastrophe“) scheint sogar in dieser Redaktion unverändert stilprägend zu wirken, wenn das Material nicht reicht für eine knackige Story. Ungeachtet dieser historischen Pleite locken weiterhin Ruhm und Preise und das gute Gefühl, auf der Seite der Gerechten und Guten zu wirken. Da hat die Faktentreue – so der jetzige Stand, eingehendere Untersuchungen sollen folgen, dann allerdings mit deutlich schärferen Beweisanforderungen – zurückzustehen.
Nicht besser erging es soeben der Süddeutschen Zeitung und dem Norddeutschen Rundfunk, als nun auch deren Arbeit einer gerichtlichen Prüfung unterzogen wurde. Was SZ und NDR am Morgen des 17. Juli 2023 um 6 Uhr ihrem Publikum als weitere Eskalation einer angeblichen Sex-Affäre verkaufen wollten, „größer als bisher bekannt“, hatte laut Landgericht Hamburg noch weniger Substanz als die Schilderungen des Spiegel in den sechs Wochen zuvor, von denen er selbst in Videokonferenzen mit interessierten Usern einräumt: „Wir wissen nicht, ob das stimmt, was wir hier schreiben.“
Sieben Autoren, mageres Ergebnis
Die vermeintliche neue NDR/SZ-Bombe erwies sich aber auch im Hinblick auf seine öffentliche Wirkung als feuchter Knallfrosch. Dieser verendete noch vor Sonnenuntergang jenes Montags mit einem traurigen Pffft. Die Enttäuschung der Redaktionen in Hamburg und München war bestimmt gross. Andere Medien, die sich sonst begierig auf jede neue vermeintliche Enthüllung in Sachen Rammstein stürzen, nahmen von dem Stück nur beiläufig Notiz. Bereits tags drauf war davon überregional kaum noch die Rede.
Wenn also der NDR/SZ-Bericht Mitte Juli überhaupt eine Wirkung hatte, dann die, dass er die Band zusammenschweißte, weil endgültig jeder der fünf anderen neben Till Lindemann nun wissen musste, dass es auch ihn treffen kann, und handele es sich um Ereignisse vor der Jahrtausendwende, heftig benebelt in einem Thüringer Hotel, oder 2002 in der brandenburgischen Provinz, jede halbwegs seriöse Rekonstruktion der Vorgänge ausgeschlossen, was Zeuginnen und Journalisten auch ganz genau wussten.
Worin die angeblich 27 und 21 Jahre alten Verfehlungen von Rammstein-Keyboarder Christian „Flake“ Lorenz, heute 56 Jahre alt, genau bestehen sollen, erschloss sich auch nach mehrmaliger Lektüre des Artikels nicht, an dem allein bei der Süddeutschen Zeitung wochenlang sieben Autoren gearbeitet haben. Irgendetwas sei damals passiert, wird eine Frau – hier „Jasmin Stevens“ genannt – zitiert, damals 17 Jahre alt.
Bier, Schnaps, Mund extrem trocken
Im Dezember 2002 habe „Jasmin Stevens“ den Sänger Till Lindemann auf einer Autogrammstunde zu seinem Buch „Messer“ kennengelernt. Am selben Abend, so der an den Erkundungen beteiligte NDR, sei sie mit ihm und Keyboarder Lorenz zu dessen Landhaus in Brandenburg gefahren:
Nach dem Konsum von viel Bier und Schnaps habe sie das Gefühl gehabt, dass ihr Mund extrem trocken gewesen sei. Die Wände hätten gewirkt, als bewegten sie sich auf sie zu. Jasmin habe sich stark berauscht in einem der Zimmer im oberen Stockwerk ins Bett gelegt – Flake habe sich dann neben sie gelegt. Sie sei nicht in der Verfassung gewesen, den Keyboarder davon abzuhalten. Sie habe sich lediglich wegdrehen können.
Flake, so erinnert sie sich, habe sie dann zurückgedreht und mit ihr Sex gehabt. Sie habe den Sex nicht gewollt, habe aber auch nicht nein gesagt und sich nicht gewehrt. Dem NDR und der Süddeutschen Zeitung schildert Stevens, dass sie bis heute unter den für sie traumatischen Erfahrungen leide und deshalb jahrelang in Therapie gewesen sei.
Der NDR sprach von einem „damals minderjährigen Opfer“ und dass es jetzt um „die Band“ insgesamt gehe, nicht mehr nur im Till Lindemann. Deshalb habe „die Sache jetzt in doppelter Hinsicht eine neue Dimension“; die Vorwürfe würden „in verschiedene Richtungen hin erweitert“. Das sagte der Sender, obwohl er wusste, dass selbst dann, wenn man diese Schilderung aus kriminalistischer Sicht als maximal verwerflich werten will, Sex eines Erwachsenen mit einer damals 17-Jährigen nur dann laut Strafgesetzbuch strafbar gewesen wäre, hätte er eine „Zwangslage ausgenutzt“. Das behauptet aber nicht einmal Zeugin „Jasmin Stevens“ selbst.
Kein Erfolg für SZ und NDR
Die Zeitung und der Sender berichteten Mitte Juli weiterhin über einen „mutmaßlichen Übergriff aus den Anfangsjahren der Band“, den eine damals 22 Jahre alte „Sybille“ erlitten haben will, nach einem Konzert in Gera im Februar 1996. Sie habe die Band in deren Hotel begleitet und in einem Hotelzimmer „getrunken und gefeiert“:
„Sie habe dann das Bewusstsein verloren und sei am nächsten Morgen nackt auf dem Fußboden aufgewacht. Neben ihr, so erinnert sie sich, habe Flake gelegen. Sybille sagt, ihr Unterleib habe sich an diesem Morgen „wie zerfetzt“ angefühlt. „Ich habe vorher Sex gehabt in meinem Leben und habe auch danach Sex gehabt in meinem Leben. Solche Schmerzen hatte ich vorher nie und nachher nie“, sagt sie. Ihr Unterleib habe noch viele Tage danach weh getan. Was genau in der Nacht passierte, weiß sie nicht. Genauso wenig weiß sie, wer für die Schmerzen verantwortlich sei.“
Die Sachlage ist diffus, etwaige Straftaten, soweit diese sich noch ermitteln ließen, wären höchstwahrscheinlich verjährt. Nicht einmal NDR-Reporter Daniel Drepper selbst glaubte am Tag nach der Veröffentlichung, dass die beiden nachträglich zur Polizei gehen werden:
„Das ist den Frauen natürlich selbst überlassen, aber aus den Gesprächen bisher ging hervor, dass sie eher keine Anzeige stellen würden.“
Jetzt auch ein juristischer Rückschlag. Die Kanzlei Schertz Bergmann ergänzte ihre Liste in Sachen Lindemann am Freitagnachmittag um weitere gerichtliche Verbote, wobei es ja, wie gesagt, hier in erster Linie um den Keyboarder ging:
„Per einstweiliger Verfügung des Landgerichts Hamburg vom 10.08.2023 (Az. 324 O 294/23) wurde dem Verlag [der Süddeutschen Zeitung] untersagt, den Verdacht zu erwecken, Till Lindemann habe im Februar 1996 eine Frau, die im Artikel mit „Sybille Herder“ benannt wurde, vergewaltigt bzw. sexuelle Handlungen an der Frau ohne ihre Einwilligung vorgenommen. Das Landgericht stützt seine Entscheidung darauf, dass es für die Verdachtsberichterstattung an dem erforderlichen Mindestbestand an Beweistatsachen fehle. Vom Verbot umfasst sind weite Passagen der entsprechenden Berichterstattung.“
Die Hamburger Anwaltskanzlei der übrigen fünf Musiker deutete gegenüber Cicero an, auch sie habe sich gegen den NDR soeben durchsetzen können wegen einer tagesschau.de-Story vom 2. Juni, wolle dies aber „nicht immer an die grosse Glocke hängen“. Stimmt: Es könnte langsam langweilen.
„Lindemann nicht mehr zu helfen“
Der oben erwähnte NDR-Rechercheur Drepper ist übrigens derselbe Journalist, der vor zehn Wochen noch, als es zum Auftakt alleine gegen den Sänger und Frontmann ging, erfreut den hämischen Kommentar „der prominenten Medienanwältin Stephanie Schork“ als hochwertige Bestätigung seiner Arbeit teilte, Till Lindemann sei „presserechtlich nicht mehr zu helfen“. Schork insinuierte, die Kollegen der Kanzlei Schertz Bergmann hätten das Mandat besser gar nicht erst annehmen sollen:
„Wenn es nicht so bitter wäre, würde man über die Presseerklärung der Kollegen für Rammstein fast lachen müssen. Sie wissen es natürlich besser. Eine Strategie zur Rechtewahrnehmung für Lindemann kann dahinter nicht stehen. Die wird es auch nicht mehr geben, so wie die Dinge liegen. Die öffentlich gewordenen Schilderungen sind so deutlich geeignet, einen hinreichenden Mindestbestand an Tatsachen zu begründen, dass sich niemand daran gehindert sehen muss, über die Vorwürfe zu berichten.“
Ob es gute Werbung für die Kreuzberger Medienrechtskanzlei Eisenberg war, mit Empfehlungen öffentlich aufzutreten, die Flinte angesichts einiger Anschuldigungen, die aus Frauensicht zunächst plausibel klingen mögen, unverzüglich ins Korn zu werfen, muss Juristin Schork selbst wissen. Wenige Wochen später beurteilt jedenfalls Lindemanns Rechtsanwalt Simon Bergmann „die Dinge“ mit einem gewissen Recht ein wenig anders:
„Der Verweis auf die unzureichenden eidesstattlichen Versicherungen der angeblichen Zeuginnen ist deshalb von besonderer Relevanz, weil der „Spiegel“ seine Berichterstattung öffentlichkeitswirksam auf angebliche Gespräche mit einem Dutzend Frauen und zudem auf die Unterzeichnung mehrerer eidesstattlicher Versicherungen gestützt hat.
Mit der Entscheidung des Landgerichts Hamburg ist der schwerwiegendste Vorwurf, der im angegriffenen „Spiegel“-Artikel erhoben wurde, gerichtlich verboten worden. Darüber hinaus wurden dem „Spiegel“ zwei falsche Tatsachenbehauptungen untersagt.
Das gerichtliche Verbot umfasst 18 teilweise lange Passagen des Artikels, die auf sechs Seiten der einstweiligen Verfügung im Einzelnen wiedergegeben werden.“
„Wir ziehen das ganz durch“
Immerhin: Für die Anwälte beider Seiten ist der Jahresumsatz dank der Causa Lindemann/Rammstein so, wie die Dinge liegen, bereits jetzt gesichert, was möglicherweise die gute Laune erklärt, mit der Marc-Oliver Srocke auf die eine oder andere gerichtliche Klatsche reagierte.
Srocke aus dem Hamburger Büro der Kanzlei Advant Beiten vertritt den Spiegel. Gegenüber Cicero stellte er klar, dass sein Mandant den Instanzenweg auszuschöpfen gedenkt. Der Streit um die Grenzen zulässiger Verdachtsberichterstattung werde sich also hinziehen und ziemlich aufwendig werden:
„Es wird aller Voraussicht nach ein Eil- und ein Hauptsacheverfahren mit jeweils mehreren Instanzen geben. Wir werden falls nötig den Rechtsweg bis zum Bundesgerichtshof und gegebenenfalls zum Bundesverfassungsgericht beschreiten.
Der Spiegel hat schon des Öfteren einen langen Atem bewiesen und war vielfach in Karlsruhe erfolgreich. Die Instanzgerichte überspannen die Anforderungen an eine Verdachtsberichterstattung zum Teil deutlich, was bereits mehrfach vom BGH und dem BVerfG attestiert wurde.“
Man sieht: Im letzten Satz seines Statements klingt bei Srocke – wieder einmal – ein wenig Unzufriedenheit mit den Entscheidungen der heimischen Pressekammer an, wie sie bereits auf gegnerischer Seite Kollege Bergmann im Cicero-Interview vom 23.Juli („‘Der Spiegel‘ schlimmer als die ‚Bild‘-Zeitung“) angesprochen hatte.
Diese angebliche Feindseligkeit gegenüber den eigenen Medien, die dem Hamburger Landgericht seit Jahren gerne von interessierter Seite nachgesagt wird, ihr sogar Beschimpfungen als „Zensurkammer“ einbrachte, ist aber andererseits nur gut für die eigene Auftragslage: Viele neue Schriftsätze, Terminsgebühren, Reisespesen, Gutachten und vor allem jede Menge abzurechnende Stundensätze, frei vereinbart, denn der Aufwand ist auf Kläger- wie Beklagtenseite sehr groß und mit den Pauschalsätzen nach Rechtsanwaltsvergütungsgesetz (RVG) unmöglich zu finanzieren.
Klagen-Kaskade auf Jahre hinaus
Hinzu kommt folgendes: Auch im (eher seltenen) hundertprozentigen Erfolgsfall für die eine oder andere Seite muss die unterlegene Partei der siegreichen nicht mehr als die gesetzliche Vergütung erstatten, zunächst jedenfalls. Das heisst: Selbst wenn die Band oder ihr Sänger den Spiegel-Verlag juristisch komplett besiegen sollten, müssten sie grosse Teile der Rechnungen ihrer Anwälte zunächst selbst bezahlen - alles, was über die amtliche Gebührentabelle hinausgeht. Und das muss man sich erst einmal leisten können, finanziell und nervlich.
Den wirklichen Schaden einzuklagen, ist noch einmal sehr aufwendig. Erst recht müssen für die Durchsetzung eines Ersatzes von Umsatz- oder Imageschaden oder für ein Schmerzensgeld (wofür vorherige Erfolge in presserechtlichen Verfahren als Argumente hilfreich wären) noch einmal mehrere Jahre Instanzenweg veranschlagt werden – gleichfalls alles im Voraus zu finanzieren, bei naturgemäß ungewisser Erfolgsaussicht.
Alleine die Schriftsätze, die man sich zu Beginn, in der Phase des einstweiligen Rechtsschutzes, gegenseitig aus eigener Initiative oder auf Anforderung des Gerichts um die Ohren haut, füllen nach wenigen Wochen schon mehrere Aktenordner und Festplatten. Und das ist erst der Anfang.
Pech mit Sex auf der Leinwand
Der Spiegel, Marc-Oliver Srocke ist da zuversichtlich, lässt sich auch seinen Feldzug gegen Rammstein, einmal in Gang gesetzt, ungeachtet anfänglicher Niederlagen etwas kosten. Ohnehin dürfe man die aktuellen Eilentscheidungen nicht „überbewerten“, meint der Anwalt. Das Landgericht Hamburg habe die Forderungen von Lindemann „in weiten Teilen zurückgewiesen“. Der „Kern“ der Berichterstattung bleibe vom Verbot unberührt:
„Dass dem Antragsteller über Jahre hinweg eine Vielzahl von jungen Frauen über ein perfides und ausgeklügeltes Casting-System zum Sex zugeführt wurde, die oftmals (jedenfalls ganz objektiv, also warum auch immer) schwer betrunken waren, ist nicht Gegenstand des Verbots. Diesbezüglich hat das Gericht ein hohes Informationsinteresse bescheinigt.“
Dem Spiegel-Anwalt war es gelungen, ein Video aufzutreiben, das Lindemann selbst auf einem Konzert hatte einspielen lassen und ihn beim Sex mit einer Konzertbesucherin zeigte. Damit hat sich für die 24. Hamburger Zivilkammer der Vorwurf einer unzulässigen Verletzung der Intimsphäre Lindemanns durch den Verlag erledigt, denn – so das Gericht – Lindemann selbst verspüre insoweit offenbar kein Geheimhaltungsbedürfnis.
Srocke hoffte, dass sich darauf „nunmehr auch andere Medien stützen können und auch ganz sicher stützen werden“, was sich hier und da erfüllte. „Dass eine Band ein solches Casting-System unterhält, ist ein Vorgang von hohem öffentlichen Interesse.“ Sein Fazit: „Insoweit sind die gegnerischen Anträge bisher ein klassisches Eigentor.“ Was er nicht sagt: Das Recht zur Berichterstattung ist grundsätzlich vorhanden. Wenn man die daraus sich ergebenden Möglichkeiten dann aber durch jede Menge Fehler im Detail vermasselt, ist man als Verlag selbst schuld.
Vermutungen einzelner Frauen
Widerpart Simon Bergmann winkt ohnehin ab, was gesellschaftliche Komponenten angeht. Die Berichte über ein „Casting-System“ hätten für seinen Mandanten Lindemann nie im Mittelpunkt gestanden. Hier habe man es weniger mit einer rechtlichen als mit einer moralischen Frage zu tun; gerichtlicher Streit darüber bringe nicht viel:
„Sie können fragen: Muss man heute noch mit Groupies ins Bett gehen, muss man eine „Auswahl“ vornehmen nach optischen Kriterien? Das kann man alles kritisch bewerten und den moralischen Zeigefinger erheben. Ich finde diese gespielte Empörung völlig überzogen. Für mich ist das eine puritanische Hypermoral, die da an den Tag gelegt wird.“
Die Klatsche, die sich der Spiegel einfing im Hinblick auf die behauptete Verwendung von K.o.-Tropfen durch Lindemann, versucht der Anwalt des Magazins kleinzureden. In den Texten sei ein solcher Verdacht gar nicht erweckt worden. Es sei „lediglich von Vermutungen einzelner Frauen berichtet“ worden, dass sie auf Rammstein-Partys „gespiked“ worden sein könnten, und lediglich eine Frau habe die Vermutung geäussert, dass Lindemann selbst dahinterstecken könnte, sagte Marc-Oliver Srocke gegenüber Cicero:
„Es handelt sich bei Vermutungen um freie Meinungsäußerungen und nicht um die Behauptung des Bestehens eines konkreten Verdachts. Des Weiteren können und werden – falls die Gerichte dieser Auffassung nicht folgen – im Laufe des Verfahrens weitere Anknüpfungstatsachen vorgetragen werden.“
Benebelte Zustände ausgenutzt
Der Spiegel will also Beweise nachliefern, mindestens aber Indizien – so Srockes Ankündigung. Und schon heute sei der Verdacht, dass Lindemann „benebelte Zustände der Frauen“ ausgenutzt haben könnte, ausreichend begründet. Mehr habe der Spiegel auch gar nicht behauptet.
Letzteres beurteilt das Hamburger Landgericht allerdings anders, sonst hätte es keinen Anlass gesehen, diese Passagen vorläufig als rechtswidrig zu unterbinden. Jurist Felix W. Zimmermann rekonstruiert den gerichtlichen Gedankengang zu diesem Punkt in Legal Tribune Online (LTO) wie folgt:
„Das Gericht stellt zunächst fest, dass der Spiegel einen solchen Verdacht durch vier Berichterstattungselemente aufgestellt habe:
- Zunächst durch die einleitende Wiedergabe des Verdachts, Frauen seien Drogen ins Getränk gemischt worden.
- Danach folgt die Schilderung konkreter Fälle, wonach Frauen Erinnerungslücken beim Sex mit Lindemann beschreiben.
- Dann kommt das Resümee, wonach das Vorgehen als ausgefeiltes System erscheine.
- Schließlich habe der Spiegel noch Bezug auf Lindemanns „Poesie“ genommen und diese als "Vergewaltigungsfantasie" bezeichnet.
Insgesamt verstehe der Leser die Berichterstattungselemente so, dass der Sänger selbst oder mit seinem Wissen und Wollen durch „seine Leute“ ein System unterhalten haben könnte, Frauen unter Drogen oder Alkohol zu setzen, damit diese mit ihm Sex haben.“
Für einen derart heftigen Vorwurf, so die 24. Zivilkammer, war die Indizienlage zu dünn. Gerade an dieser Stelle des Rechtsstreits erkennt man, warum Anwälte wie Simon Bergmann lieber im Konfliktfall zu Presserechts-Profis in Hamburg gehen als zu Amateuren in Posemuckel.
Suggestionsketten entlarven
Das Hamburger Landgericht ist mit seinen Erfahrungen aus hunderten von Medienstreitigkeiten relativ mühelos in der Lage, Suggestionsketten zu entlarven, mittels derer die Leser in ein bestimmtes Meinungsbild gedrängt werden sollen, ohne dass vielleicht einzelne Sätze für sich rechtlich angreifbar wären, was dann auch ganz harmlos zur Verteidigung vorgebracht wird. Im Anschluss an Anwalt Srocke unternahm dies einige Tage später auch die Redaktion selbst – in einem leicht indignierten Tonfall:
„Wir sind dagegen der Ansicht, dass wir einen entsprechenden Verdacht [Lindemann oder Helfer hätten Frauen unter Drogen oder Alkohol gesetzt] schon überhaupt nicht erweckt haben. Wir haben von Vermutungen einzelner Frauen berichtet, dass sie auf Rammstein-Partys „gespiked“ worden sein könnten, wobei diese (bis auf eine) noch nicht einmal konkret vermutet haben, dass Herr Lindemann dahinterstecken könnte. Das ist ein Unterschied, denn bei Vermutungen handelt es sich auch juristisch erst einmal grundsätzlich um freie Meinungsäußerungen und nicht um Behauptungen, dass ein konkreter Verdacht besteht.“
Es kommt aber auf die Gesamtwirkung an, die mit solchen Texten auf den „verständigen Durchschnittsleser“ – niemand hat ihn je gesehen, aber in Gerichtssaal B 335 des Hamburger Landgerichts ist sein Geist allgegenwärtig – ausgeübt werden soll. Da lässt sich die Pressekammer nicht verschaukeln, denn sie kennt nun einmal ihre Pappenheimer in den Verlagen, was wiederum dem Spiegel naturgemäß missfällt.
Clever komponiert, klug zerlegt
Die Redaktion setzt es aus den Einzeltexten der 13 Autoren mit Hilfe der Hausjuristen raffiniert zusammen, die noch allerlei Gummiwörter wie „wohl“ und „offenbar“ einpflegen und den Konjunktiv strapazieren, bis der Text von vorne bis hinten stilistisch Pickel kriegt – und das Gericht nimmt es routiniert wieder auseinander. Der Trick fliegt auf und die Passage fliegt raus – einstweilen gestorben bis zu einer endgültigen Entscheidung.
Niemand weiss das besser als Anwalt Srocke, doch da er seinen Mandanten in höherer und moralisch überlegener Mission verortet, dürfe der sich von kleineren Hindernissen und Rückschlägen nun wirklich nicht irritieren lassen:
„Ungeachtet dessen hat der Spiegel in den vergangenen Jahren eine Vielzahl von gerichtlich für zulässig befundenen (oder gar nicht erst beanstandeten) #MeToo-Berichterstattungen veröffentlicht. Es handelt sich bei sexualisierter Gewalt und strukturellem Machtmissbrauch um ein wichtiges gesellschaftspolitisches Thema, das zahlreiche Branchen betrifft und über das der Spiegel weiterhin unter Beachtung der höchstrichterlichen Rechtsprechung und der geltenden Unschuldsvermutung berichten wird.“
Da betont einer etwas, das niemand bestritten hat. Das geschieht in aller Regel, wenn einer von für ihn weniger erfreulichen Aspekten ablenken will. Also: Ja, das Thema ist wichtig. Ja, man darf auch über Verdachtsfälle berichten. Nein, grenzenlos gilt das nicht, denn auch andere Leute haben Rechte, sogar Weltstars. Vorwürfe müssen stimmen und beweisbar sein, sonst gibt es Ärger, auch für ein Nachrichtenmagazin. Sagen, was ist. Nicht: Sagen, wie wir es uns ausschmücken und gerne hätten, um ausreichend Empörung zu erzeugen.
Rüdiger Suchsland in Telepolis
Die mit Abstand intelligentesten Analysen, Einschätzungen und Kommentare zur Causa Rammstein und dem gesellschaftlichen Rahmen, in der sie stattfindet, erscheinen, komplett gegen den Mainstream, im Online-Magazin Telepolis von Heise Medien, etwa von Chefredakteur Harald Neuber, der „Szenen eines politischen und medialen Kontrollverlustes“ beobachtet, der sich längst zu einem „handfesten Medien-Skandal“ entwickelt habe, oder von Filmkritiker und Regisseur Rüdiger Suchsland:
„Es gab einmal eine Zeit, da versprachen Partys, Pop und Promiskuität Befreiung. Aber diese Zeiten sind lange vorbei. Die derzeit geltende Trias lautet: Prüderie, Puritanismus, Paternalismus. Sie betrifft längst nicht nur Partys, sondern macht sich in einer Gesellschaft breit, die sich gern selbst so darstellt, als wolle sie ihren Mitgliedern Freiheit und Selbstbestimmung ermöglichen. Tatsächlich aber perfektioniert sie täglich ein System aus Bevormundung und Kontrolle, Disziplinierung und Normierung, deren Schmiermittel der Hypermoralismus ist.“
Groupies zu Opfern erklärt
Pop- und Rockkultur seien immer Gegenkultur gewesen, so Suchsland, eine Gegenwelt. Und Sex, Drugs und Rock'n'Roll hätten noch nie einem „gegenseitigen Einverständnis“ entsprochen, einem bürgerlichen Kaufvertrag, sondern „seit jeher Handeln in der Grauzone“ mit anderen Mächten als nur dem Gesetzbuch:
„Was kann „sexuelle Selbstbestimmung“ denn eigentlich anderes meinen als das Recht darauf, auch seine eigenen Fehler zu machen und nicht die der Eltern, Lehrer, Politiker oder anderer (Nicht-)Erziehungsberechtigter?“
„Will man wirklich leben“, zitiert Suchsfeld den Spiegel aus einem hellen Moment, „als wäre man sein eigenes Helikopterelternpaar?“ Doch wohl hoffentlich nicht. Aber die Tendenz, so der Mann vom Film, gehe genau dort hin:
„Heute sind Groupies Frauen, denen die Entscheidungskraft abgesprochen wird, die von der Gesellschaft zu Opfern erklärt werden und sich selbst dieser sozialen Norm fügen. Eine Anita Pallenberg oder Uschi Obermaier würde es und dürfte es heute nicht mehr geben; sie wären heute NDR-Redakteurinnen.“
Grüne holzen Wälder ab und betonieren sie für Windräder, die SPD feiert das Ende des auch für kleine Leute erschwinglichen Automobils, während Konservative den Rock’n’Roll verteidigen und die lustfeindliche Spießigkeit von NDR-Redakteurinnen mit Entsetzen zur Kenntnis nehmen. Alles anders als noch neulich. Irgendetwas stimmt hier nicht.
King Kong Lindemann
Gleichzeitig stimmen eineinhalb Millionen Fans mit den Füßen ab und gehen ins Konzert, streamen die Musik und kaufen die schwarzen Shirts, während sich ein Häuflein von Gegnern freuen muss, vor dem Stadion wenigstens mit einem Stinkefinger Beachtung zu erfahren, der daraufhin durch die Presse geht, als stehe er für strukturelle Frauenverachtung schlechthin.
Ist das Scheitern der Kampagne gegen Rammstein ein Vorzeichen eines grundlegenden Klimawandels – Ende der linksgrünen Hegemonie, Anfang einer, logo, als „Rechtsruck“ etikettierten Normalisierung? Zu denken gibt es den Journalisten und Aktivisten in Anstalten und Qualitätsmedien schon, wenn nicht einmal Meinungsmacht in dieser Ballung noch halbwegs die erwünschte Wirkung zeigt trotz eines hochemotionalen Gegenstands: Alter reicher weißer starker Mann gegen junge arme kleine schwache Frau. Vermeintlich arm, klein, schwach.
Vielleicht stimmt das Narrativ nicht, weil es den Frauen eine Rolle zuteilt, in der sich diese gar nicht erkennen. Nicht mehr. Schon lange nicht mehr. Und das, obwohl Till Lindemann ja nun wirklich optisch, akustisch und habituell alle Voraussetzungen erfüllt für eine Rolle als King Kong mit der weißen Frau, der allerdings, das scheinen einige der Jüngeren nicht zu wissen, die Herzen der Zuschauer 1933 im Sturm eroberte, während seine Jäger in Ungnade fielen.
„Es geht um Zukunft von MeToo“
„War da was?“, frug Thomas E. Schmidt ziemlich verwirrt diese Woche in der Zeit, um einen Kommentar folgen zu lassen, der in der Mitte abbrach, ohne einen Gedanken zu Ende zu führen:
„Einiges darf der Spiegel inzwischen nicht mehr schreiben. Das interessiert Presserechtler, aber das Publikum sollte auch davon wissen, denn momentan entscheidet sich, was über mutmaßliche MeToo-Fälle künftig öffentlich berichtet werden kann. Mit anderen Worten: Es geht auch um die Zukunft der MeToo-Bewegung.“
Redakteur Schmidt stellt Rechtsanwalt Bergmann mindestens unbewusst als einen hin, der drauf und dran sei, mit unlauteren Methoden das Bürger-, speziell das Frauenrecht einzuschränken, Skandale auch als solche öffentlich zu benennen und zu beklagen, „die leider keine Einzelfälle sind“. Um im nächsten Satz wiederum ungewollt zuzugeben, dass es sich genau umgekehrt verhält: „Von sexueller Gewalt betroffene Frauen wollen gerade jenes Meinungsklima erzeugen, das einen Wandel der Moralauffassungen einleitet.“
Keine Umkehr der Beweislast
Schmidt liegt also falsch. Verweigert wird – aus gutem Grund – ein Wandel weg von der Beweispflicht hin zur Verurteilung auf Grund blosser Behauptung. Da macht Lindemanns Anwalt Simon Bergmann nicht mit, da machen die Gerichte nicht mit, da macht zum Glück der Grossteil der Bevölkerung nicht mit.
Die Frau hat immer recht mit einer Beschuldigung – dieser Wunsch wird sich nicht durchsetzen, denn er führte zu Willkür, Anarchie und Rechtlosigkeit, vermutlich sogar zu einer Verdoppelung und Verdreifachung von Morden an Frauen, um sie daran zu hindern, zur Polizei zu gehen, denn das war es ja dann.
Thomas E. Schmidt übersieht zugleich, dass andererseits ein weiteres Prinzip gerade von den Gerichten bis hin nach Karlsruhe höher gehalten und intensiver gepflegt wird als jemals zuvor: Zutreffende Behauptungen kann auch der beste und teuerste Presseanwalt der Welt nicht unterbinden.
Was stimmt, darf gesagt, geschrieben, gesendet werden, in maximaler Verbreitung und Lautstärke. Dagegen ist nach wie vor kein juristisches Kraut gewachsen. Und wenn die Tat strafbar war, dann wird sie auch bestraft. Nur die Beweislastumkehr, die findet nicht statt. Und das ist auch gut so.
„Die haben alle noch grosse Lust“
Die Rammstein-Tournee ist zu Ende, die Stadien waren ausverkauft, der Protest blieb wirkungslos, die sechs Mitglieder der Band sind erschöpft, „völlig platt“, wie einer es beschreibt, und jetzt erst einmal sehr ausführlich weit weg in Urlaub. Vor Mitte September passiere da von dieser Seite erst einmal gar nichts, heißt es aus der Umgebung.
Dass die Band sich trennt, einfach weil sie genug haben von sich, von den Anwürfen, weil sie sich verkracht und auch genug Geld verdient haben, um sich zur Ruhe zu setzen, ist nach allem, was zu erfahren ist, nicht zu erkennen. Im Gegenteil: „Die haben alle noch grosse Lust, weiterzumachen.“
Außerdem müsse die Band Rücksicht nehmen auf ihre Leute, trage eine gewisse personelle Verantwortung. Die Crew wurde mit sehr viel Geld während der Pandemie bezahlt und zusammengehalten, obwohl es zwei Jahre lang nur wenig oder gar nichts zu tun gab – ein mittelständisches und weltweit erfolgreiches Unternehmen, das man nicht wegen zwischenzeitlich holpriger Wegstrecke mal eben aufgebe. Da ginge auch sehr viel Knowhow verloren.
Konflikterprobt in 30 Jahren
Diese sechs Männer hätten sich in den 30 Jahren ihrer Zusammenarbeit Strategien zur Konfliktbewältigung erarbeitet, die sie auch Krisen überstehen lasse, sagt ein Insider. Und Till Lindemann wird am 8. November nach allem, was man heute wissen kann, wie geplant seine Solo-Tournee starten - 24 Termine in Deutschland und anschliessend in einigen Städten Europas. Da gibt es für manche Auftritte noch Karten, für andere schon nicht mehr.
Unterdessen ermittelt in Berlin das Landeskriminalamt im Auftrag der Staatsanwaltschaft gegen ihn. Ob der 60-Jährige bereits als Beschuldigter vorgeladen wurde und ob er sich zu den Vorwürfen eingelassen hat, ist nicht bekannt. Die Hoffnung, dass das Verfahren noch dieses Jahr eingestellt wird, ist bei Rammstein und Crew jedenfalls gross.
Die Peniskanone bleibt einstweilen außer Betrieb und das „Pussy“-Lied fern der Playlist. Beide Traditionals einzumotten, könnte am Ende als einziges Zugeständnis an die Canceltruppe übrig bleiben.
Quelle:
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