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26.02.23, 00:16
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Streuner
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Flucht nach Norwegen
Zitat:
Ein desertierter Ex-Wagner-Söldner muss in Russland um sein Leben fürchten – trotzdem will er zurück
Andrej Medwedew war in der Ukraine für die Gruppe Wagner im Einsatz. Als er nicht mehr kämpfen wollte, wurde er bedroht und floh nach Norwegen. Warum zieht es ihn jetzt wieder in seine Heimat? Eine Begegnung in Oslo.
Aus Oslo berichten Alexandra Rojkov und Alexander Chernyshev
25.02.2023, 20.02 Uhr
Andrej Medwedew in Oslo: »I’m from Russia« Foto: Janis Laizans / REUTERS
Als der Alarm losgeht, beginnt Andrej Medwedew zu rennen. Die Sirene heult, weil er illegal den Grenzstreifen betreten hat. Mehrere russische Sicherheitskräfte laufen auf Medwedew zu, doch er ist schneller. Zwei Schüsse sausen an ihm vorbei. Medwedew rennt weiter.
Irgendwann steht er vor einer Reihe Wohnhäuser. Er ist in Norwegen. So erinnert sich Medwedew heute, mehr einen Monat später, an seine Flucht aus Russland.
Medwedew sucht nach einem Haus, in dem Licht brennt – es ist Nacht und er will niemanden wecken. Er klopft an eine Tür. »I’m from Russia«, habe er gesagt, einer der wenigen Sätze, die er auf Englisch kennt. Er macht Laufbewegungen mit den Fingern, um zu zeigen, dass er zu Fuß gekommen ist. Kurz darauf greift die norwegische Polizei ihn auf.
Er wünscht dem Wagner-Chef den Tod
Es ist das vorläufige Ende einer Odyssee, die Wochen dauerte. Sie begann in der Ukraine, wo Andrej Medwedew sich als Söldner für eine der brutalsten Kampftruppen der Welt verdingte: der Gruppe Wagner. Nun hat Medwedew bei den norwegischen Behörden gegen seine ehemaligen Auftraggeber ausgesagt. Der 26-Jährige verurteilt den russischen Angriffskrieg und sagt, er würde den Wagner-Gründer Jewgenij Prigoschin am liebsten persönlich erschießen. »Ich würde nichtmal was spüren dabei«, sagt Medwedew im Gespräch mit dem SPIEGEL. »Nur den Rückstoß meiner Waffe, sonst nichts.«
Seit Beginn des Angriffskrieges sind zahlreiche russische Kämpfer ins Ausland geflohen. Der Soldat Pawel Filatjew, der heute in Frankreich lebt, beschreibt in einem Buch die ersten Kriegstage in der Stadt Cherson. Nikita Tschibrin gehörte zu einer Einheit, die möglicherweise an den Kriegsverbrechen in Butscha beteiligt war, er lebt heute in Spanien. Doch kaum ein Fall ist so ambivalent wie der von Andrej Medwedew. Seine Geschichte zeigt, wie schwierig der Umgang mit den ehemaligen Kämpfern für Europa werden könnte. Denn nicht alle sind auf ein Leben im Westen vorbereitet. Und der Westen womöglich auch nicht auf sie.
Das Gespräch mit Andrej Medwedew findet zum großen Teil in einem Restaurant im Zentrum von Oslo statt. Medwedew gehörte zu einer Söldnerarmee, die bekannt ist für ihre Gnadenlosigkeit – auch er selbst wirkt oft brutal, fast verroht. Während des Interviews mit dem SPIEGEL ärgert er sich einmal so über einen Kommentar des Reporters, dass er ihm androht, ihn »auf den Baum zu prügeln«. Wenige Tage nach unserem Treffen gerät Medwedew vor einer Bar in eine Schlägerei und greift mutmaßlich Polizisten an, die ihn festnehmen wollen. So berichten es norwegische Medien.
Gleichzeitig ist Medwedews persönliche Geschichte die eines Menschen, der von früher Kindheit an kein Glück hatte. Unter anderen Umständen wäre er vielleicht Arzt geworden, wie er es sich als Teenager wünschte. Stattdessen wird er erst straffällig. Dann zieht er in den Krieg.
Medwedew erzählt, er sei in Judino geboren, einem Dorf, so tief in Sibirien, dass »Gott es vergessen hat«. Seine Mutter stirbt früh, der Vater verliert das Sorgerecht für die vier Kinder. Medwedew kommt ins Heim.
Konflikte mit dem Gesetz
Er will Arzt werden, aber es bleibt ein Traum. Mit 16 macht er eine Ausbildung als Assistent für Erdölbohrungen, die er abbricht. Es dauert nicht lang, bis Medwedew mit dem Gesetz in Konflikt kommt. Ein Freund habe ihn gebeten, zu helfen, Schulden zurückzubekommen, so umschreibt Medwedew es. Er wird angeklagt, aber nach einiger Zeit unter Auflagen freigelassen.
Mit 18 Jahren, so erzählt er, tritt Medwedew der russischen Armee bei. Er wird bei den Fallschirmjägern ausgebildet. Nach eigenen Angaben kämpft er danach unter anderem 2015 in der Ostukraine, was bezeichnend wäre: Russland streitet bis heute ab, damals militärisch in den Konflikt zwischen Separatisten und der Ukraine eingegriffen zu haben.
Im Frühjahr 2022 sitzt Medwedew wieder im Gefängnis, er hat einen Mann verprügelt. Am 4. Juli kommt er frei. Zwei Tage später unterschreibt er einen Vertrag bei der Gruppe Wagner.
»Ich werde oft gefragt, warum ich zu Wagner gegangen bin«, sagt Medwedew. »Meine Antwort ist: Weil ich als Idiot geboren wurde.« Er wirkt in diesem Moment aufrichtig und bedrückt. Er habe im Staatsfernsehen gehört, dass die Ukraine von Nazis regiert werde – da wollte er helfen, das Land zu befreien. Und ja, auch die Bezahlung sei für ihn ein Anreiz gewesen.
Wagner war einst eine Elitetruppe, die sich damit brüstete, der russischen Armee überlegen zu sein. Sie nahm nur ausgebildete Kämpfer an und schickte sie unter anderem nach Syrien und in die Zentralafrikanische Republik. Seit dem Angriff auf die Ukraine sind Schätzungen zufolge Zehntausende russische Soldaten gestorben, auch viele Wagner-Kämpfer kamen ums Leben. Inzwischen kann man sich per WhatsApp für den Krieg bewerben, Vorkenntnisse nicht nötig.
Viele Männer, die sich zur gleichen Zeit wie Medwedew melden, hätten keinerlei Kampferfahrung gehabt, erzählt er. »Es war erschreckend.« Sie werden zehn Tage auf einer Militärbasis in Molkino ausgebildet, einem Ort im Südwesten Russlands. Dann habe man ihn und etwa 600 weitere Rekruten mit Bussen in die Ukraine gebracht.
Schon am ersten Tag, so schildert er es, seien sie von ukrainischer Artillerie beschossen worden. Von 30 Männern seiner Einheit überleben vier. »Da war mir klar, wo ich gelandet bin.«
Weil er Kampferfahrung hat, wird er zum Leiter einer Einheit ernannt. Sein Einsatz beginnt im Südosten von Bachmut, dann bewegt sich seine Einheit im Uhrzeigersinn um die Stadt. Während des Gesprächs mit dem SPIEGEL holt Medwedew sein Handy hervor und fährt mit dem Finger über eine Karte auf seinem Display. »Klynowe, Wessela Dolyna, Opytne«, zählt er auf – Orte, in denen er für Wagner kämpfte.
Doch Medwedew kommen Zweifel, ob der Krieg, den er führt, ein gerechter ist. Einmal, so erzählt er, hätten die Kämpfer geschmortes Fleisch übriggehabt, und beschlossen, es mit ukrainischen Zivilisten zu teilen, die in der Nähe wohnten. »Als wir ankamen, sagten sie: Schert euch zum Teufel mit eurem Essen. Was macht ihr hier eigentlich? Wir haben ohne euch gut gelebt, und jetzt zerstört ihr alles.«
Nach einigen Wochen wird Medwedew mitgeteilt, dass die Wagner-Truppen aufgefüllt würden – mit Häftlingen. Der Gründer Jewgenij Prigoschin hat manche persönlich in russischen Gefängnissen rekrutiert. Wer sechs Monate in der Ukraine durchhält, so verspricht Prigoschin, werde im Gegenzug in die Freiheit entlassen. »Als ich das hörte, war mir klar: Das wird ein Fuck-up«, sagt Medwedew. »Häftlinge sind keine Kämpfer. Ich dachte, dass wir alle Probleme bekommen.«
Als die Männer ankommen, verändert sich die Behandlung aller Wagner-Rekruten. Plötzlich seien sie auf Missionen geschickt worden, die leichtsinnig waren und extrem gefährlich. »Das einzelne Menschenleben zählte nichts mehr.« Wer sich widersetzt, wird bestraft. Manche seien vor den Augen der Kameraden erschossen worden, mehrere solche Morde erlebt Medwedew nach eigenen Angaben mit. Auch ukrainische Gefangene seien manchmal getötet worden, nachdem man sie befragt und für nicht mehr wertvoll befunden habe.
Medwedew sagt, er habe versucht, sich zu wehren. Einmal habe er zwei ukrainische Kriegsgefangene freigelassen, obwohl das verboten war. Dennoch kämpft er bis zum Ende seines Vertrags im November, in dem Glauben, dass er dann zurück nach Russland kann.
Doch als er sich abmelden will, eröffnet man ihm, sein Vertrag sei verlängert worden. Er solle noch zwei oder sogar vier Monate in der Ukraine bleiben. »Ich habe meinem Kommandeur mein Sturmgewehr vor die Füße geworfen und gesagt: Geh verdammt noch mal selbst kämpfen.«
Jewgenij Prigoschin, Gründer der Wagner-Gruppe: Catering-Unternehmer und Söldner-Chef Foto: dpa
Für vieles, was Medwedew schildert, gibt es keine Belege. Wagner-Gründer Prigoschin hat zwar bestätigt, dass Medwedew für ihn im Einsatz war – aber wo und wie lässt sich nicht unabhängig klären. Seine Schilderungen decken sich jedoch weitgehend mit Berichten, die es über die Gruppe Wagner gibt.
Medwedew ist impulsiv und aufbrausend – aber er wirkt auch traumatisiert, stellenweise geradezu gebrochen. Wenn man ihn fragt, ob er es bereue, in den Krieg gezogen zu sein, sagt er: »Ich bereue, dass ich geboren wurde.«
Als Strafe, dass er sich weigert, weiter in der Ukraine zu kämpfen, steckt man Medwedew in eine Grube, so erzählt er es. Sie sei mit einem Brett bedeckt gewesen, ein Wagner-Söldner bewacht ihn. Dennoch gelingt Medwedew mithilfe von Kameraden die Flucht. Noch im November 2022 bringen sie ihn an die Grenze zwischen der Ukraine und Russland.
Wagner, das ist bekannt, duldet keine Deserteure. Im November veröffentlicht die Gruppe ein Video, in dem der ehemalige Kämpfer Jewgenij Nuschin mit einem Hammer erschlagen wird. Nuschin, der zu zeitweise Medwedews Einheit gehörte, hatte sich offenbar den ukrainischen Streitkräften ergeben. Später wurde er aber wohl wieder nach Russland ausgetauscht. Laut Wagner-Chef Prigoschin verdienten »Verräter« wie Nuschin nichts anderes als den Tod.
Doppelter Verrat in den Augen der Wagner-Leute
Medwedew begeht demnach einen doppelten »Verrat«. Er setzt sich nicht nur aus dem Kampfgebiet in der Ukraine ab, und verweigert damit einen Befehl. Kurz darauf gibt er in Russland auch demonstrativ seine Kampfnummer zurück, einen Metalljeton, der als Erkennungszeichen der Söldner gilt. Medwedew will ein Symbol setzen, dass seine Zeit bei Wagner vorbei ist.
Es gibt ein Video von dem Moment, die Organisation »Gulagu.net«, die Medwedew in Russland juristisch beriet, hat es hochgeladen. Darauf sieht man, wie Medwedew im November 2022 zum Wagner-Hauptquartier in St. Petersburg fährt, einem silbernen Hochhaus. Es ist offenbar Nacht, Medwedew wandert auf dem Gelände herum, bis ihn ein Wachmann anhält. Der junge Kämpfer drückt dem verdutzten Wärter seinen Jeton in die Hand. Der starrt die Marke an, wundert sich, was er damit soll. »Alles Gute«, sagt Medwedew nur. Dann dreht er sich um und verlässt das Gelände.
»Ich wollte zeigen, dass ich keine Angst vor ihnen habe«, erklärt Medwedew heute. Deshalb habe er die Marke abgegeben. »Aber ehrlich gesagt, war ich an dem Abend auch betrunken.« Medwedews Kumpel, der das Video gedreht hat, bestätigt dem SPIEGEL die Geschichte. Er erzählt auch, dass wenig später Wagner-Leute beginnen, nach Medwedew zu suchen. Sie schicken Sprachnachrichten, drängen auch andere Freunde und Bekannte, Medwedews Aufenthaltsort zu verraten. »Früher oder später hätten sie ihn gekriegt«, sagt der Kumpel. Der SPIEGEL nennt seinen Namen nicht, um ihn nicht zu gefährden.
Medwedew taucht unter, wohnt bei Freunden. Er wechselt ständig Orte und Telefonnummern. Irgendwann beschließt er, »Gulagu.net« zu kontaktieren, eine Organisation, die mehrere ehemalige Kämpfer beraten hat. »Sie sagten mir, ich solle nach Europa fliehen«, erzählt Medwedew. »Aber ganz ehrlich? Ich wollte das nicht.«
Medwedew hat keine Ausbildung, außer der als Kämpfer. Er spricht kein Englisch, er weiß nicht, wie Europa funktioniert. Er fragt sich, was er dort soll.
Trotzdem wagt er in der Nacht zum 13. Januar die Flucht nach Norwegen . Aber offenbar nicht, wegen Drohungen. »Wollen Sie wissen, wie es wirklich war?«, fragt er.
Medwedew erzählt, er habe während der letzten Wochen in Russland eine Romanze mit einer Menschenrechtsaktivistin begonnen, die er über »Gulagu.net« kennenlernte. Im Januar setzt sich die Frau in die Türkei ab, ohne ihm Bescheid zu geben. Medwedew habe ihr folgen wollen. Deshalb fährt er im Januar nach Murmansk im Norden Russlands. Zwei Tage später überquert er die Grenze nach Norwegen.
Doch die Frau lässt ihn fallen, so schildert es Medwedew. Sie wolle nichts mehr mit ihm zu tun haben. Er ist nun in einem der reichsten Länder der Welt, doch er sieht darin keinen Sinn mehr. Am liebsten, sagt Medwedew, wäre er wieder in Russland.
Medwedew war nicht vorbereitet auf ein Leben in der Fremde. Er kann sich nicht verständigen, scheint Norwegens Regeltreue und Organisiertheit als einengend zu empfinden. Oft wirkt er einsam. Lässt man Medwedew eine Minute allein, ruft er sofort Freunde in Russland an, um sich zu unterhalten.
Sein Zuhause ist ein Safe House an der Peripherie von Oslo: Dort bewohnt er ein Zimmer im ersten Stock. Im selben Haus wohnt rund um die Uhr mindestens ein Wärter, der offiziell dafür da ist, Medwedew zu »helfen«. Doch er lässt die SPIEGEL-Journalisten nicht ins Gebäude. »Es ist wie Hausarrest«, sagt Medwedew.
Er verbringt nun viele Tage und auch Nächte außerhalb. Streunt in Oslo herum. Manchmal trinkt er offenbar. Medwedew wirkt verloren, wenn er davon erzählt. Einmal habe der Türsteher einer Bar ihn erkannt und nicht hereinlassen wollen. »Weil ich verdammt noch mal von Wagner bin.«
Medien in aller Welt haben über den Ex-Söldner berichtet, der angeblich ein neues Leben in Norwegen beginnen möchte. Tatsächlich will Medwedew inzwischen nur noch nach Hause, nach Russland. »Ich will hier nicht mehr sein«, sagt er über Norwegen. »Das sind nicht meine Leute, das ist nicht meine Welt. Ich gehe lieber zurück und sterbe, als hier zu bleiben.«
Ein Waldstück in Oslo erinnert ihn an Zuhause
Aber er gibt zu, dass er nicht weiß, wie das gehen soll. Er hat kein Geld, selbst per Anhalter käme Medwedew nicht bis zur Grenze. »Ich könnte nicht mal erklären, wo ich hin will«, sagt er. »Und hier in Norwegen ruft jeder sofort die Polizei.«
In seiner Verzweiflung verbringt Medwedew viel Zeit an dem einzigen Ort in Oslo, der ihn an Russland erinnert: ein Waldstück hinter einem Supermarkt. Hier, zwischen den dichten Bäumen, sieht Norwegen ein wenig aus wie Sibirien. Medwedew nennt es »eine kleine Heimat«.
Am Vorabend des Interviews, so erzählt es Medwedew, packt er seine Tasche und läuft vom Safe House zu dem Wäldchen. Dort legt er sich auf den Boden und schläft ein. »Ich habe so tief geschlafen wie seit Langem nicht.«
Seine letzten Gedanken hätten seiner verstorbenen Mutter gegolten. »Ich habe ihr geschworen: Ich werde nach Russland zurückkehren.« In das Land, in dem er um sein Leben fürchten muss, weil er nicht mehr kämpfen will.
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Geändert von karfingo (26.02.23 um 00:23 Uhr)
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